Mehr Strategie wagen - General a.D. Erich Vad

Veröffentlicht am 1. Juli 2023 um 02:46

Weshalb interessengeleitete Politik den Frieden eher bewahrt als rein wertegesteuerte Aussenpolitik

Krieg gegen die Ukraine − militärisch-operative Lagebeurteilung

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist zum Abnutzungskrieg geworden. Nach Angaben des US-Generalstabschefs Mark Milley forderte er bereits in kurzer Zeit mehr als 200.000 gefal­lene und verwundete Soldaten, über 40.000 zivile Tote und er führte zu Millionen von Flüchtlingen.

In der militärischen Lagebeurteilung kann man eine historische Parallele zum Ersten Weltkrieg zie­hen: Damals wurde in einem weitgehenden Stellungskrieg die gegenseitige militärische Abnutzung der Kräfte vorexerziert. Dies führte 1916 in der sogenannten ‚Blutmühle von Verdun‘ zum Tod von fast einer Million junger Franzosen und Deutscher; sie sind sinnlos und für nichts gefallen. Die Kriegsparteien verweigerten in der Folge politisch-diplomatische Verhandlungen. Dies führte zu weiteren Millionen Toter, die militärische Situation für die damaligen Kriegsparteien änderte sich substantiell aber nicht. Die Abnutzungsstrategie hat militärisch nicht funktioniert; es ist sehr zwei­felhaft, ob sie das in der Ukraine im Jahre 2023 tun würde.

Aus militärischer Sicht muss mit Blick auf unsere Unterstützung der Ukraine mit erheblichen Waf­fenlieferungen, die seit kurzem auch Kampfpanzer und bald Kampfjets um­fassen, gefragt werden:

Was sollen diese Waffenlieferungen militärisch-operativ konkret bezwe­cken?

Geht es darum, Russland zu besiegen, wie manche fordern?

Geht es um die Rück­eroberung der Krim und des Donbass?

Geht es darum, den derzeitigen Abnutzungskrieg aufrecht zu erhalten oder sogar Kriegspartei zu werden?

Oder geht es darum, die Ukraine lediglich militärisch zu stabilisieren, um ihre spätere politische Verhandlungsposition zu stärken?

Um die Krim oder den Donbass zurückzuerobern reichten angesichts des militärischen Kräfte­verhältnisses im Raum selbst hunderte Schützen- und Kampfpanzer allein nicht aus. Auch der diskutierte Einsatz von westlichen Kampfjets wird angesichts der russischen Luft­überlegenheit und eines gewaltigen Potentials verfügbarer russischer Kampfjets an der militä­rischen Gesamtlage nichts substantiell ändern können. In der Ostukraine haben die Russen (Stand Mai 2023) trotz heftiger und zum Teil erfolgreicher Gegenwehr der Uk­rainer weitgehend die Initiative zurückgewonnen. Solange die NATO nicht als Ganzes Kriegs­partei wird, muss man sich bei allen Überlegungen zur künftigen Ausgestaltung der westli­chen Militärhilfe der rein numerischen militärischen Überlegenheit der Russen gegenüber der Uk­raine gewärtig sein. Russland hat, anders als die Ukraine, noch nicht das Kriegsrecht oder eine Ge­neralmobilmachung ausgerufen. Bereits ohne beides könnte Russland – im Gegensatz zur Ukraine – weitere Millionen von Reser­visten mobilisieren. Über solch gewaltige personelle Reserven verfügt die Ukraine nicht. Sie kann nicht unbegrenzt ihre personellen Verluste ersetzen. Zudem verringern sich die russischen Waffen und Munitionsvorräte abseh­bar nicht substantiell und qualitativ entscheidend. Die Ukraine ist hingegen von Lieferungen des Westens abhängig. Sie hängt regelrecht am Tropf dieser Zuflüsse an Material und Ausrüstung und ist nur so militärisch überlebens- und handlungsfähig. Hinzu kommt die militärische Eskalationsdomi­nanz Russlands in allen Waffensystemen bis hin zu Nuklearwaffen. Russland ist immer noch die stärkste Nuklearmacht der Welt. Die russische Militärdoktrin sieht den Kernwaffeneinsatz vor, wenn russisches Territorium bedroht ist. Ob legitim oder nicht : die Krim gehört in der russischen Perzeption dazu. Das muss in die militärische Lageanalyse einfließen und kann über den Weg politischen Wunschdenkens nicht wegdekliniert werden, wenn man keinen Nuklearkrieg in Europa will.

Der Ruf nach zusätzlichen, wei­ter reichenden, stärkeren und auch Russlands Staatsgebiet treffenden Waffen – aktuell mehr Panzer und Kampflugzeuge – ist aus ukrainischer Sicht verständlich. Das Land liegt unter dem Feuer von russischen CruiseMissiles und Kurzstreckenraketen. Starke russische Kräfte stehen auf einer rund 1.200 Kilometer langen Frontlinie ukrainischen Verteidigern gegenüber, die ohne solche Waffen­lieferungen einer russischen Eskalationsdominanz im Operationsgebiet kräftemäßig kaum etwas entge­genhalten könnten. Bei grundsätzlich militärischer Unterlegenheit helfen der Ukraine der Zugang zu westlichen nachrichtendienstlichen Erkenntnissen und die Verfügbarkeit von Aufklärungs- und Ziel­daten. Dies schließt operativ-taktische Überraschungsangriffe Russlands weitgehend aus. Es war mit ein Grund, weshalb der schnelle militärische Zugriff auf Kiew zu Beginn des Krieges scheiterte, den so gut wie alle Experten – auch der Autor dieses Beitrages – erwartet hatten. Die Verfügbar­keit von Aufklärungs- und Zieldaten westlicher Dienste ermöglichte es der Ukraine, von russischer Seite weniger überrascht zu werden, sowie durch regionale Schwerpunktbildungen begrenzte, allerdings nicht nachhaltige, militärische Erfolge während der Sommermonate 2022.

Die Situation im Frühjahr 2023 ist weiterhin ein militärisches Patt. Es ist zweifelhaft, ob die erwartete Offensive der Ukrainer das substantiell ändern kann. Regional begrenzte Erfolge, Einbrüche in die tief gestaffelte russische Verteidigung der Ukrainer sind bei der zu er­wartenden Frühsommeroffensive – wie bereits im Herbst 2022 – denkbar. Aber ein nach­haltiger Einfluss auf die militärische Gesamtlage durch die damaligen ukrainischen Offen­siven war schon im Sommer/Herbst 2022 nicht abzusehen. Das war auch erkennbar, wenn man sich nicht an Wunschdenken, sondern an eine vorurteils- und vor allem emotionsfreie militärische Lagebeurteilung gehalten hätte. Ähnlich wie der ehemalige Generalinspek­teur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, (siehe dazu Der Spiegel v. 15.09.2022) bezweifelte auch der Autor einen nachhaltigen Erfolg der ukrainischen Offensiven im Som­mer/Herbst 2022 aufgrund der russischen Eskalationsdominanz und ihrer puren numeri­schen Überlegenheit. Trotz westlicher Waffenlieferungen prognostizierte der Autor sehr früh die – dann auch eintretende – militärische Pattsituation, einen langen Ab­nutzungskrieg und das Scheitern einer rein militärischen Lösung des Krie­ges, wie sie von vielen deutschen Politikern – begleitet von einer bisweilen erschreckend undifferenzierten Kriegsrhetorik – gefordert wurde (siehe u.a. RTL-Interview Erich Vad mit Vivian Bahlmann v. 09.09.2022 sowie Beiträge/Interviews in der Goslarschen Zeitung v. 04.10.22; Rhein-Neckar-Zeitung v. 22.10.22). Ein zusammenfassendes Bild über die militärische Lage und die Perspektiven des Ukrainekrieges lieferte der Autor in einem ntv-Interview am 7.11.22 und am 24.11.2022 mit Tamara Bilic.

Mit militärischen Mitteln allein scheint der kriegerische Konflikt weiterhin nicht auflösbar zu sein. Mark Milley, US-Generalstabschef, und eine Studie der US-regierungsnahen Rand-Corporation be­werten es ähnlich.

"Avoiding a long war in Ukraine"

rand.org, 01/2023

 Milley gab öffentlich erstmals am 9. November 2022 in einem Interview mit CNN seine Bewertung des Ukrainekriegs ab. Er bekam dafür - ähnlich wie der ehemalige Generalin­spekteur der Bundeswehr Eberhard Zorn - viel Kritik; in deutschen Medien wurde seine Lagebewertung erst sehr spät und unvollständig verbreitet. Dabei hätte man und muss man davon ausgehen, dass ein Generalstabschef der Vereinigten Staaten von Amerika eine solche öffentliche Bewertung, die politische Wirkung entfalten musste, nur mit, zumindest mit still­schweigender, Zustimmung der höchsten politischen Entscheidungsinstanz hatte veröffentlichen können. Es ist auch die Bewertung des Autors dieser Zeilen, dass ein militärischer Sieg der Ukraine nicht zu erwarten ist und dass daher Verhandlungen der einzige Weg sind, den für beide Seiten immer verlustreicher werdenden Abnutzungskrieg zu beenden. Eine Fortführung würde mit hoher Wahr­scheinlichkeit zu unkontrollierbarer Eskalation führen, zu sogenannten Rutschbahneffekten und Ei­gendynamiken und damit zu Prozessen, welche – darin besteht eine besondere Gefahr – der Wes­ten politisch und die NATO militärisch nicht mehr steuern könnten.

CNN, "Can Ukraine push out Russia? See top US general's blunt assessment", 17.11.2022

"The US Chairman of the Joint Chiefs of Staff Gen. Mark Milley spoke about whether Ukraine can fully push the Russian army out of Ukraine at a Pentagon press briefing."

Kampfpanzer für die Kriegswende?

Lassen Sie es mich beispielhaft aufzeigen, wie politisch und militärisch komplex das in der Ukrai­nedebatte in Deutschland stark vereinfachte und hochemotionale Thema „Panzerlieferungen“ ist:
Die Ende März 2023 getroffene politische Entscheidung von Bundeskanzler Olaf Scholz, der Ukraine 18 Leopard-2 Kampfpanzer aus dem Bestand der Bundeswehr zu liefern, kann auf die Kämpfe im Frühsommer in der Ukraine kaum eine operativ-militärische Auswirkung haben. Die Verlegung von Panzern ist kein banaler Autotransport: Der Leopard 2 ist ein Hochwertwaffensystem, das von den Russen kaum unbemerkt über Ostpolen und dann über mehr als 800 Kilometer durch die Westuk­raine in die Einsatzgebiete über Schiene und/oder Straße transportiert werden muss − im Wir­kungsbereich der russischen Luftwaffe, russischer Cruise Missiles und von Kurzstreckenraketen. Ir­gendwann treffen sie, stückweise mit den Panzern einiger Partner ein und werden mit hoffentlich gut ausgebildeten ukrainischen Besatzungen gekoppelt. Die Besatzungen müssen nämlich in der Lage sein, diese Kampfpanzer technisch zu bedienen und einzusetzen. Ob die Qualität und Erfah­rung der Besatzungen, Kommandanten und Verbandsführer darüber hinaus auch für das Gefecht miteinander verbundener Waffensysteme gilt, ist – abgesehen von der wichtigen Frage der Verfüg­barkeit von Begleitartillerie, Pionieren, Luftstreitkräften, Luftabwehrfähigkeiten etc. – mehr als fraglich. Dazu braucht es langer Erfahrung. Zudem benötigt man für den Einsatz von Kampfpanzern ein relativ offenes Gelände sowie die Luftherrschaft über dem Operationsgebiet, ins­besondere gegen Drohnenangriffe, über die die Ukrainer so aber nicht verfügen. Im urbanen Umfeld wiederum sind Panzer weitgehend unbrauchbar und hochgefährdet. Die logistisch-technische Betreuung muss tagtäglich erfolgen, Betriebsstoff und Munition müssen über weite Entfernungen verlässlich herangeführt werden. Ohne dies alles stehen Panzer schnell als unbrauchbare Wracks am Weges­rand oder sie wandern – wie bereits bei anderen westlichen Waffensystemen der Fall − als Beute­fahrzeuge in die militärischen Bestände des russischen Aggressors. Wenn alles optimal verliefe, könnten im Sommer ein bis zwei mit westlichen Waffensystemen voll ausgestattete Panzerbatail­lone mit rund 60 Kampfpanzern in der Ostukraine zusammengezogen werden.

Es muss klar gesagt werden: Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein.

Die Forderungen des ukrainischen Generalstabschefs an den Westen zielten auf die Verfügbarkeit von mindestens 300 Kampfpanzern. Für eine erfolgreiche Offensive bräuchte die Ukraine zudem die 3- bis 5-fache Überlegenheit.

Diese können die Ukrainer wahrscheinlich nur punktuell und regional begrenzt erzielen. Ein in der Öffentlichkeit wenig bekanntes Problem ergibt sich für Deutschland zusätzlich: Anfang 2023 verfügte die Bundeswehr selbst nur über 90 einsatzfähige Panzer, davon waren 8 Leopard-Panzer in Litauen stationiert. Abzüglich der 18 aus eigenen Beständen gelieferten Leopard-Panzer hat die Bundeswehr derzeit lediglich rund 64 Kampfpanzer (Stand 2023) zur Verteidigung gegen einen Angriff zur Verfügung. Das nach seiner Bevölkerungszahl viel kleinere Finnland (5,5 Millionen Einwohner) verfügt über rund 200 einsatzbereite Leopard-2-Panzer, die Schweiz (8,8 Milli­onen Einwohner) über 134 Leopard-Kampfpanzer. (siehe dazu: Patrick Mayer, in: www.merkur.de vom 6.3.2023).

Fazit: Die politisch vehement diskutierte und in Deutschland medial massiv unterstützte Entsendung moderner westlicher Kampfpanzer wird an der militärischen Gesamtlage nichts sub­stantiell ändern.

Es werden im Sommer 2023 maximal rund 60 westliche Kampfpanzer, davon 18 Leopard 2 aus den Beständen der Bundeswehr, für die ukrainische Armee operativ verfügbar sein.  Die Anzahl ist weit entfernt von den Forderungen des ukrainischen Generalstabes. Mo­derne Kampfpanzer sind als komplexe Waffensysteme in ihrer militärisch-operativen Effizienz von reibungslos funktionierender Logistik, Betriebsstoffen und Ersatzteilen ebenso abhängig wie von für Panzer geeigneten Einsatzräumen und anderen, in der Ukraine nur bedingt verfügbaren, Mitteln für das sogenannte Gefecht der miteinander verbundenen Waffensysteme.
Die entscheidende militärstrategische Frage bei Waffenlieferungen bleibt jedoch:

Wie will man ei­nen derartigen Konflikt perspektivisch mit einer kriegerischen Nuklearmacht durchstehen, ohne in Gefahr zu geraten, sich spätestens in der Endphase einem Krieg ausgesetzt zu sehen, der nuklear geführt wird und nicht nur Russland und die Ukraine erfasst?

Geopolitische Interessen

Der Krieg Russlands gegen ein Nachbarland ist ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg. Es ist richtig, dass der Westen unter Führung der USA auf Seiten der Ukraine steht und dem Land hilft: finanziell, mit Rüstungsgütern und Waffen, bei der Flüchtlingsthematik u.v.a.

Der Fokus auf Waf­fenlieferungen ist problematisch.

In der emotionsgeladenen Debatte um den Ukraine­krieg spielen im Westen, vor allem in Europa und in Deutschland, strategische Gesichtspunkte kaum eine Rolle. Eine europäische Vision und Strategie zur Frage, wie mit Russland als Nachbar­land perspektivisch umgegangen werden sollte, fehlt. Der Westen besitzt im Ukrainekrieg kein poli­tisch-strategisches Konzept, er hat bislang weder den politischen „end-state“ definiert noch realisti­sche politische Ziele formuliert.
Waffenlieferungen zur Stabilisierung der Ukraine sind und bleiben wichtig. Aber zu keinem Zeit­punkt wurden, wie oben erwähnt, die politischen und strategischen Ziele der Waffenlieferungen definiert und die dies­bezüglichen Fragen beantwortet.

Ohne ein politisch-strategisches Gesamtkonzept, das den Clausewitz‘schen Primat der Politik sicherstellt und bereits den möglichen Frieden nach dem Krieg im Blick hat, haben Waffenlieferungen nur begrenzten Wert. In der Denktradition von Clausewitz bewegt sich der Westen ständig auf der taktischen Ebene und droht die politischen und strategi­schen Perspektiven aus den Augen zu verlieren.
Ein solches Vorgehen genügt den Anforderungen des Tages, aber es übersieht schlichte, geopoli­tisch wesentliche Tatsachen, z.B., dass die Ukraine an Russland grenzt. Ein Zugriff des für Russland geopolitischen Rivalen in Eurasien, dies sind die USA, in dieser Region ist für die Russen so wenig hinnehmbar wie es der Verlust der Kontrolle der Karibik oder des Panamakanals für die USA oder wie es der Verlust der Kontrolle über das Südchinesische Meer und Taiwan für China wären. Vor diesem Hintergrund kann und wird sich Russland aus geopolitischen und aus strategischen Gründen aus dem Donbass und der Krim nicht zurückziehen. Und: Russland wird nach dem Ukrainekrieg nicht von der Landkarte verschwunden sein. Eine wichtige Frage, die in der Debatte um den Ukrai­nekrieg nicht vorkommt, stellt sich hier: Wäre eine militärische Niederlage Russlands – sofern die über eine Nuklearmacht möglich ist – überhaupt aus der westlichen Interessenlage heraus wün­schenswert? Wer sollte ein solches überdimensional großes strategisches Vakuum in Eurasien fül­len, beispielsweise die über hundert unterschiedlichen Föderationssubjekte, Regionen und Oblaste der Russischen Föderation zusammenhalten? Vom Ende her und strategisch gedacht können ein militärischer Sieg über Russland und die damit einhergehende zwingende Destabilisierung des Lan­des nicht im westlichen politisch-strategischen Interesse sein.

2008 war das dem Westen noch sehr klar.

Auf dem damaligen NATO-Gipfel in Bukarest sprachen sich Deutschland und Frankreich gegen eine schnelle Aufnahme der Ukraine in die NATO aus. Die NATO schätzte die strategische Interessenlage von West und Ost damals richtig ein, beurteilte sie realistisch und hatte sich der von den Deutschen vorgetragenen Analyse angeschlossen. Wesentli­che Gründe dafür waren die damalige innere Verfasstheit der Ukraine und das Überschreiten einer − aus Sicht Russlands − roten Linie. Konsequenz wäre sonst schon damals, 2008, Krieg gegen die Ukraine gewesen. Im Falle Georgiens wurde er von Russland 2008 geführt.
Der gleichzeitige Kompromiss allerdings, für die Ukraine die Perspektive einer NATO-Mitgliedschaft aufrechtzuerhalten, könnte ein Fehler gewesen sein: Es gab und gibt nämlich kein Souveränitäts­recht eines Landes auf NATO-Mitgliedschaft. Diese Perspektive war (und wäre) auch nur schwer mit Artikel 10 des NATO-Vertrages kompatibel, denn sie gefährdete die Sicherheit des Bündnisses eher als dass es sie förderte, wie es Art. 10 verlangt. Zudem befeuerte dies die russische Darstellung einer bedrohlichen NATO-Ost-Erweiterung. Das könnte 2014 nicht unwesentlich zur Annexion der Krim und zum völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine 2022 mit beigetragen haben. Historiker werden letztlich abschließend bewerten, ob und wenn ja wie man den Ukrainekrieg poli­tisch hätte verhindern können.

Strategischer Realismus

Man darf beim Ukrainekrieg nicht außer Acht lassen, dass die strategische Bedeutung der Schwarz­meerregion vergleichbar ist mit derjenigen der Karibik oder der Panamakanal-Region für die Sicher­heit der USA. Ungeschriebenes Gesetz der US-Außenpolitik ist und bleibt die Monroe-Doktrin des frühen 19. Jahrhunderts. Die Kubakrise 1961/62 und die vielfältigen Interventionen der USA in La­teinamerika und in der Karibik während der letzten Jahrzehnte sind nur vor ihrem Hintergrund zu verstehen. Ich persönlich kritisiere das nicht: Die USA sind nach wie vor wichtigster Verbündeter. Das ist gut so. Denn wer fühlte sich nicht in einer westlich-transatlantischen Welt mit den USA wohler als unter russischer oder chinesischer Herrschaft?
Die strategischen Facts and Figures sind und bleiben Teil der Internationalen Beziehungen. Daran kann keine noch so werteorientierte Außenpolitik etwas ändern. Sie sollten, ich meine: sie müssen in jede politische Lageanalyse einfließen und beachtet werden. Unsere Werte, Normen und das Völkerrecht, in dem es auch um Deutungshoheit und Interpretationsspiel­räume geht, zählen selbstverständlich. Wenn aber eine Macht in der strategischen Interessensphäre einer anderen Macht interveniert, gibt es, angefangen vom diplomatischem Ärger bis hin zu realen Konflikten, vieles, das im Extremfall zum Krieg führen kann. Führte diesen gar eine Nuklearmacht, ist besondere Vorsicht geboten – übrigens auch beim Aggressor, der dies alles auch weiß und in sein Kalkül einstellen wird. Es lassen sich dut­zende Beispiele für Interventionen in konkurrierenden Machtbereichen anführen. Ich denke, Bei­spiel Israel, an die strategische Bedeutung der Golanhöhen oder der Straße von Tiran zwischen dem Sinai und Saudi-Arabien, die für die Sicherheit Israels aus strategischen Gründen seit Jahrzehnten und bis zum heutigen Tag nicht verhandelbar sind. Für das NATO-Mitglied Türkei gilt gleiches, ein Land, das in Syrien und Irak militärisch interveniert, pa­rallel zum russischen Überfall auf die Ukraine, und im gleichen Zeitraum die Kurden bekriegt. Die Türkei reklamiert für Ihre strategischen Interessen – Völkerrecht und territoriale Integrität sei­ner Nachbarländer hin oder her – eine strategische Sicherheitszone in Syrien und im Irak. Ein freies Kurdistan wird die Türkei aus strategischen Gründen nicht dulden, selbst wenn völkerrechtliche Prinzipien wie das Selbstbestimmungsrecht der Völker etwas anderes fordern. Die Türkei hat au­ßerdem einen strategischen Interessenkonflikt in der Ägäis mit Griechenland. Wären beide Länder nicht in der NATO, hätte dieser Konflikt sich längst zu einem Krieg ausweiten können.
China wiederum geht es um die strategische Vorherrschaft im Südchinesischen Meer. Wie eine ma­ritime Perlenkette verbindet das von den USA geführte „maritime Containment Chinas“ faktische und potentielle Verbündete der USA: von Japan über Südkorea, Taiwan, den Philippinen, Vietnam, Malaysia, Indonesien, Singapur bis nach Indien. Der laufende Territorialkonflikt Chinas mit Japan, Taiwan, Vietnam, den Philippinen und Malaysia um einzelne Inselgruppen im Südchinesischen Meer muss in diesem größeren Kontext gesehen werden. Das Südchinesische Meer verbindet Pazifik und Indischen Ozean. Aus geostrategischer und ökonomischer Sicht, mit Blick auf die Öl- und Gasvor­kommen, bleibt den Chinesen strategisch kaum eine andere Wahl, als hier hart zu bleiben – ähnlich übrigens wie für die Russen – bei diesen ist es der Blick auf Krim und Schwarzes Meer, oder, für die USA – mit Blick auf die Karibik. Das gilt auch für die strategische Position Taiwans. Es ist für China das Tor in den Pazifik. Und deshalb wird man den aktuellen Streit niemals ideologisch, nur politisch und pragmatisch lösen können. Das wissen die Amerikaner genau: Ließen sie diese strategischen Faktoren außer Acht, führte das unweigerlich in einen militärischen Konflikt.
Während der Ukrainekrieg andauert, geht es im jemenitischen Bürgerkrieg im Kern um einen Stell­vertreterkrieg zwischen dem machthungrigen Iran und Saudi-Arabien, das von den USA aus geo­strategischen Gründen unterstützt wird – trotz einer diktatorischen Regierung, massiven, systema­tischen Menschenrechtsverletzungen und trotz mittlerweile über 400.000 Ziviltoten in diesem seit Jahren tobenden Bürgerkrieg.
Indien wiederum ist für die USA strategisch im Containment gegen China bedeutend. Aus strategi­scher Sicht sind hier übrigens die engen militärtechnologischen und wirtschaftlichen Beziehungen und die laufenden Energielieferungen Russlands nach Indien deswegen für die USA sekundär. Fol­gerichtig wird es den Deutschen erlaubt, über Indien russisches Gas und Öl zu beziehen, wesentlich teurer als direkt aus Russland.

Die NATO vor der Zweifrontenlage?

Mit Blick auf den Ukrainekrieg geht es auch darum, zwischen einer freien Bündniswahl der Ukraine und strategischer Balance und Stabilität in Europa abzuwägen. Aus geostrategischer Sicht ist eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine für Russland so wenig akzeptabel wie es z.B. für die USA ein Bei­tritt Kanadas zur Eurasischen Union Russlands oder wie es eine Unabhängigkeitserklärung Taiwans für China oder ein freies Kurdistan für die Türkei wären. Deshalb ist die Forderung, den Russen die Kontrolle über die Krim und die Gebiete mit hoher russischsprachiger Bevölkerung in der Ukraine zu überlassen oder dem Donbass weitestgehende Autonomie zu gewähren, aus strategischer Sicht realistischer, als auf das, wie oben erläutert vermeintliche Recht auf freie Bündniswahl oder auf ei­nen lang andauernden Abnutzungskrieg mit hohem Eskalationspotential zu setzen.
Aus rein strategischer, russischer Sicht ist die NATO durch Osterweiterung bedrohlich nah an russi­sche Grenzen gelangt. Waren es nach Ende des Kalten Krieges rund 2.000 Kilometer von dem ost­wärtigen Rand der NATO bis Moskau, sind es heute rund 1.000 Kilometer. Wenn die Ukraine NATO-Mitglied würde, wären es weniger als 800 Kilometer.

Gleichwohl: Die Sicherheitsgarantien der Garantiemächte des Budapester Memorandums von 1994 (USA, GB, RUS) für die Ukraine bei ihrer damaligen Aufgabe der Nuklearwaffen haben offensichtlich nicht ge­wirkt. Eine ebenso realistische Option wäre es, ob man nicht doch eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, eingebettet in eine europäische Sicherheitsarchitektur und unter der Bedingung des ukrainischen Verzichts auf umstrittene Territorien – Krim/Donbass – , erwägen sollte unter der Bedingung, dass keine NATO-Truppen und Waffensysteme, die Russland erreichen können, permanent in der Ukraine stationiert würden. Unter solchen Voraussetzungen könnte – ähnlich wie die Akzeptanz der früheren Sowjetunion zur NATO-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschland – eine NATO-Mitgliedschaft sowohl für die Ukra­ine wie für Russland eine Art Sicherheitsstrategie bilden und die Stabilität in der Region insgesamt erhöhen. Je nachdem, wie sich der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine politisch weiterentwickelt, würde durch eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine die Kriegsgefahr insgesamt erheblich steigen, weil die tief sitzenden Konflikte zwischen Russen und Ukrainern  – auch innerhalb der Ukraine – nicht behoben sind. Sie werden quasi in die NATO transportiert, was de jure gegen den Artikel 10 des NATO-Vertrages verstieße.

Bei Ausbruch militärischer Auseinandersetzungen wären die NATO als Ganzes und auch Deutschland invol­viert. Wenn die Beistandsverpflichtung nach Artikel 5 des NATO-Vertrages griffe, würde das bedeuten können, dass deutsche Soldaten wieder – wie bereits im Ersten und Zweiten Weltkrieg – am Dnjepr und im Raum Charkiw kämpfen. Es bleibt eine Herausforderung für die deutsche Sicherheitspolitik, diese Folgen mit zu berücksichtigen. 

Eine EU Mitgliedschaft der Ukraine würde gewaltige ökonomische, soziale, politische und militärische Konsequenzen mit sich bringen. Die Ukraine ist – trotz ernsthafter Absichten und Anstrengungen – nach wie vor weit davon entfernt, eine rechtsstaatliche Demokratie nach EU-Standards zu sein.

Die strategische Lage der NATO, unter Führung der USA, hat sich mit dem russischen Überfall auf die Ukraine hingegen verbessert. Nie zuvor waren die USA so als der westliche Hegemon anerkannt. Dies ist vor allem Putin`s Aggression gegenüber der Ukraine zuzuschreiben. Selbst die lange widerstreben­den Deutschen wollen ihren Verteidigungsetat auf die seit Jahren geforderten 2 % des BIP anheben und ihre Streitkräfte wieder einsatzfähig machen. Mit den neuen NATO-Mitgliedern, Finn­land und Schweden, wird das Bündnis zudem stärker als je zuvor.

Russland hat sich zudem während des Ukrainekrieges strategisch näher an China angelehnt und der Westen hat kräftig dabei mitgeholfen. Das könnte für beide Seiten als strategisch ausbaufähig angesehen werden, ebenso wie die russische Kooperation mit den BRICS Staaten enger geworden ist – befördert durch westlichen Gasexport-Boykott und andere westliche Sanktionen. Die strategi­sche Anlehnung Russlands an China könnte langfristig die Lage in Eurasien zugunsten Russlands verbessern. Vom Ende her gedacht kann das nicht in unserem Interesse sein.
Ob der Westen, die USA und ihre europäischen und indo-pazifischen Verbündeten, die strategische Zweifrontenlage gegen Russland in Europa und gegenüber China im Indo-Pazifik militärisch und wirtschaftlich allerdings werden durchhalten können, ist eine berechtigte, offene Frage. Der Westen sollte sich nicht strategisch überheben. Schon viele Reiche und Imperien sind in der Ge­schichte am „Overstrech“ ihrer Möglichkeiten und Fähigkeiten gescheitert. Es sollte daher unbedingt hinterfragt werden:

Ist es langfristig strategisch klug, den Westen unter Führung der USA in ein geostrategisches Zweifrontenszenario zu bringen?

Diese Fragen werden bei den Wahlen in den USA wahrscheinlich eine Rolle spielen.

Conclusio

Aus EU-Sicht stellt sich die Frage, inwieweit die Fortdauer des Ukrainekrieges und die danach fol­gende, wahrscheinliche Wiederauflage eines Kalten Krieges mit Russland im strategischen Inte­resse Europas liegen können. Das kommt auf die Sichtweise an: Osteuropäische NATO-Partner wie die baltischen Staaten und Polen, sicherlich auch Schweden und Finnland als künftige NATO-Part­ner, suchen prioritär Schutz, weniger den der europäischen Verbündeten als vielmehr den der USA. Andere Partner wie Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien wollen tendenziell ein Mehr an strategischer Autonomie Europas, haben dazu aber kaum die strategischen Mittel und den ernsthaf­ten Willen der Umsetzung.

Wenn man von dem vielzitierten Anspruch der EU ausgeht, ein „global Player“ und strategischer Akteur sein zu wollen, dann hat sich die Situation der EU, insbe­sondere die Deutschlands, mit dem Ukrainekrieg massiv verschlechtert:

Die Perspektive eines lang­andauernden Konfliktes und Kalten Krieges mit Russland und seines jederzeit möglichen Eskalati­onspotentials, das wirtschaftspolitisch Deutschland massiv treffende „strategische Decoupling“ von Russland und China, der Brexit Großbritanniens, die negative Seite laufender Sanktionen und die absehbare starke wirtschaftliche Rezession in der Eurozone scheinen den Traum von der Strategi­schen Autonomie Europas weitestgehend zu beenden. Dazu kommen nicht zu übersehende Risse in der EU. Man denke an die Konflikte zwischen Gründer – und Beitrittsstaaten, Ost- und Westeuropä­ern, Nord- und Südeuropäern, mit den Visegrad-Staaten, zwischen Euro- und Nicht-Euro-Staaten, Netto-Zahlern und Empfängern.

Nie zuvor war Europa so gespalten und gleichzeitig in sicherheits­politischer und militärischer Hinsicht so abhängig von den USA wie heute.

Die Aufnahme der war­tenden 10 EU-Beitrittsaspiranten und insbesondere der Ukraine in die EU wäre eine große Her­ausforderung. Die EU bekäme eine über 3.000 Kilometer lange Außengrenze mit Russland – eine große, sicherlich zu große Aufgabe, mit Blick auf die militärische Beistandsverpflichtung, die der EU-Vertrag in Artikel 42 Absatz 7 vorsieht.

Der Aufbau einer glaubwürdigen Abschreckung in Europa ohne die USA scheint derzeit unrealistisch zu sein. Dennoch ist es hohe Zeit, die EU zu einem echten sicherheitspolitischen Akteur zu transfor­mieren.
Es kommt darauf an, die Ukraine weiter militärisch zu unterstützen, dosiert und besonnen. Gleich­zeitig muss Russland unmissverständlich signalisiert werden: bis hierher und nicht weiter! Ein An­griffskrieg darf kein Präzedenzfall werden. Deshalb darf die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren. Ihr dabei zu helfen ist eine Gratwanderung zwischen Eskalation und Hilfeleistung. Es ist daher richtig, dass die Nato ihre militärische Präsenz im Osten erhöht. Aber Russland wird, wie erwähnt, auch nach dem Ukrainekrieg nicht von der Landkarte verschwinden. Und eine Neuauflage des Kalten Krieges mit einem Eisernen Vorhang weiter im Osten ist aus europäischer Sicht keine gute Option in einer absehbar multipolaren Welt, die durch gegenseitiges „strategic decoupling“ nicht sicherer wird. Es wird perspektivisch die Aufgabe bleiben, Russland in die europäische Sicherheitsarchitek­tur zurückzuholen, so schwer uns diese Vision derzeit fällt.

Dazu sind Politik und Besonnenheit so­wie Interessenausgleich und Verständigung erforderlich.

China steht bereit – nach erfolgreicher Vermittlung zwischen Saudia-Arabien und dem Iran – auch im Ukrainekrieg zu vermitteln.

Daher ist es hohe Zeit, dass entsprechende Initiativen zur Lösung des festgefahrenen Ukrainekrieges aus dem Wes­ten kommen.

In einer absehbar multipolaren Welt, die durch gegenseitige strategische Entflechtung keineswegs sicherer wird, wäre eine Neuauflage des Kalten Krieges mit einem Eisernen Vorhang im Osten aus europäischer Sicht keine gute Option.

Es wird daher perspektivisch Aufgabe aller geopo­litisch verantwortlichen Akteure bleiben, die strategischen Dispositionen der Sicherheitspolitik im Blick zu behalten, um den Weltfrieden nicht zu gefährden.


Erschienen auch in der Zeitschrift „ Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte,“ 2/23

und auf global-review.info, 28.06.2023

In Kürze auch auf der Seite der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildung (Link folgt)

 

Zum Autor : Dr. Erich Vad ist Unternehmensberater. Der Brigadegeneral a. D. war von 2007 bis 2013 Grup­penleiter im Bundeskanzleramt, Sekretär des Bundessicherheitsrates und militärpolitischer Berater der damaligen Bundeskanzlerin. Bei dem Beitrag handelt es sich um eine aktualisierte und erweiterte Fassung (siehe Blog) seines Artikels, der erstmals in der NZZ am 16. Mai 2023 publiziert wurde.


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