Gedichte I

"Dichten heißt verdichten."

Carl du Prel


Hoffnung

Und dräut der Winter noch so sehr
mit trotzigen Gebärden,
und streut er Eis und Schnee umher,
es muss doch Frühling werden.

Blast nur, ihr Stürme, blast mit Macht,
mir soll darob nicht bangen,
auf leisen Sohlen über Nacht
kommt doch der Lenz gegangen.

Drum still! Und wie es frieren mag,
o Herz, gib dich zufrieden,
es ist ein großer Maientag
der ganzen Welt beschieden.

Und wenn dir oft auch bangt und graut,
als sei die Höll' auf Erden,
nur unverzagt auf Gott vertraut!
Es muss doch Frühling werden.

Emanuel Geibel

Erster Schnee

Wie nun alles stirbt und endet und das letzte Lindenblatt
müd` sich an die Erde wendet in die warme Ruhestatt.
So auch unser Tun und Lassen, was uns zügellos erregt,
unser Lieben unser Hassen sei' ins welke Laub gelegt!

Reiner weißer Schnee, oh schneie, decke beide Gräber zu,
dass die Seele uns gedeihe still und kühl in Wintersruh!
Bald kommt jene Frühlingswende, die allein die Liebe weckt,
wo der Hass umsonst die Hände dräuend aus dem Grabe streckt.

Gottfried Keller

Der erste Schnee

So leise, wie im klaren Teich der Schwan,
So fein und weich wie Seide flog es an.
Ein kühles Wunder, schimmernd weiß und weh,
Zart wie ein Traum : so kam der erste Schnee.

Sein holder Flaum, der an der Hand verging,
Fiel schwebend wie ein toter Schmetterling;
Die Flocken küssten zärtlich das Gesicht,
Das Land ward endlos, endlos weit und licht.
Die Flocken sanken unhörbar und schwer,
Nun ist nur Schnee und keine Landschaft mehr.

Blau ist der Abend und das Schneeland auch,
Nur von den Dächern kräuselt weißer Rauch.
Und Frische duftet aus dem Dämmerkrug:
Die Welt hält still mit tiefem Atemzug.

Alfred Margul-Sperber