Perspektiven

"Die Zukunft hängt davon ab, was du heute tust."

Mahatma Gandhi



Raus aus der Schockstarre:

"Ein möglicher Weg zum Frieden in der Ukraine"

"...Also nur Krieg und Waffenlieferungen – wo soll das enden? Die Frage ist unangenehm, aber natürlich nicht ganz unberechtigt. Und sie bedarf mehr als einer wegwerfenden Handbewegung als Antwort. (...)

Feststeht: Wir brauchen eine Initiative zur Ausarbeitung aller denkbaren Optionen eines Friedensprozesses. Und zwar jetzt. Packen wir all diese Themen entschlossen an, um vorbereitet zu sein! Und nehmen wir bitte damit den Schwarzers, Wagenknechts und Prechts den Wind endgültig aus den Segeln."

(Anm. TS: Ah, daher weht der Wind! Aber vielleicht ja trotzdem in die richtige Richtung?)

tagesspiegel.de, Wolfgang Ischinger, archive.is, 12.03.2023


"Verhandlungen statt Siegfrieden"

Über (Doppel-)Moral in der Ukrainekrise

Ein Kommentar von Peter Wahl bereits aus dem Oktober, jedoch so aktuell wie nie.

"...Washington und sein europäisches Gefolge steigern erneut die Waffenlieferungen an Kiew, der Wirtschaftskrieg nimmt immer drastischere Formen an und in den großen Medien gelten Verhandlungsangebote nicht nur als unrealistisch, sondern sogar als unmoralisch.

Wenn sie überhaupt einmal in Tagesschau oder FAZ und TAZ vorkommen, werden sie als Lumpenpazifismus beleidigt und mit Nazi-Vergleichen eingedeckt. «Defätisten» wollten «einen Waffenstillstand von Putins Gnaden herbeireden,» so die FAZ am 5. September (S. 9), ein wahrer Propagandasound aus Blut und Eisen. Die moralische Diskreditierung von Kritik am offiziellen Kurs soll einschüchtern und ist nicht völlig wirkungslos. (...)

Die moralische Sicht auf diesen Krieg hat dabei für ihre User durchaus Vorteile, denn sie vereinfacht die Dinge sehr. Moral analysiert nicht, sondern urteilt und verurteilt. Dabei muss man mit nur zwei Variablen arbeiten: Gut und Böse.

Komplexe Probleme, deren Verständnis und Lösung eine gewisse intellektuelle Anstrengung und Differenzierungsvermögen erfordern, erscheinen dann plötzlich ganz einfach. (...)

Moral hat aber auch einen großen Nachteil: sie ist unteilbar. Wer selber immer mal wieder andere Länder überfällt, (...) wird moralisch unglaubwürdig, wenn er das Böse nur bei den anderen sieht. Aus Moral wird dann Doppelmoral. (...)

Es ist moralisch inakzeptabel, auf unkalkulierbare Zeit eine unkalkulierbare Zahl von Menschen in den Tod zu schicken. (...)

In einer wertebasierten Außenpolitik, die diesen Namen verdient, steht Frieden an 1. Stelle, so wie er auch der Zentralbegriff des Völkerrechts ist. Gleiches gilt für die Menschenrechte. In der Menschenrechtserklärung der UNO von 1948 steht an der Spitze aller Rechte nicht zufällig das Recht auf Leben. (...)

Solidarität mit der Ukraine heißt daher zuallererst sich dafür einzusetzen, dass das Töten aufhört. (...)

Zudem ist die Behauptung, keine Seite wolle verhandeln, so nicht richtig.

Moskau signalisiert immer mal wieder, dass es zu Verhandlungen bereit wäre, so Außenminister Lawrow wieder am 11. September - ganz im Gegensatz zu Selenskyj. Selbst wenn man meint, dass das erst mal nur Worte im Propagandakrieg sind, müsste eine Regierung mit Friedenswillen versuchen, sie auf ihre Ernsthaftigkeit zu testen. Schließlich war Moskau im Getreidedeal zu Verhandlungen bereit, ebenso wie bei der Vereinbarung mit der Internationalen Atomenergiebehörde zum AKW Saporischja. (...)

Es geht zunächst darum, das Meinungsmonopol des militärischen Narrativs zu brechen.

In der Vielzahl der inzwischen vorliegenden Vorschläge zur Beendigung des Ukraine-Kriegs kristallisieren sich als Kern folgende Punkte heraus:

* Als erstes muss ein Waffenstillstand zustande kommen;

* dazu wird es Vermittler*innen bedürfen. In Frage kommen dafür die UNO und neutrale Staaten, ggf. in Kombination;

* der Waffenstillstand könnte Ausgangspunkt für die Bildung einer entmilitarisierten Zone werden, in der UNO-Blauhelme stationiert werden;

* die Ukraine braucht Sicherheitsgarantien. Die könnten durch Garantiemächte gewährleistet werden, am besten durch solche, die nicht Konfliktpartei sind, wie Indien, die Türkei oder Südafrika, ggf. aber auch gemischt mit Partner*innen beider Seiten;

* für die russischen Interessen ist zentral, dass die Ukraine nicht zum militärischen Brückenkopf von USA und NATO vor der russischen Haustür wird;

* für die Lösung der Territorialfragen könnten nach einigen Jahren Volksabstimmungen unter internationaler Aufsicht durchgeführt werden. Modell könnte das Saarland sein, das nach dem Krieg 10 Jahre unter französischer Verwaltung stand. 1955 entschieden sich 67,7 % der Saarländer für den Beitritt zur Bundesrepublik. Die unterlegene Minderheit muss die Option zum Wechsel in das andere Land haben, flankiert durch soziale Unterstützung;

* als positive Anreize ist ein internationales Wiederaufbauprogramm für alle vom Krieg betroffenen Regionen aufzulegen, auch der unter russischer Kontrolle;

* die Sanktionen werden Zug um Zug abgebaut;

* als weiterer Anreiz für Russland werden Verhandlungen zur strategischen Rüstungskontrolle gestartet;

* als längerfristige Perspektive beginnt eine Konferenz über eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur. (...)"

rosalux.de, Peter Wahl, 18.10.2022


„Auf der Seite der Diplomatie

"Brasilien lehnt Berliner Forderung nach Waffenlieferungen an die Ukraine ab und bemüht sich um Vermittlung im Ukraine-Krieg – gemeinsam mit anderen Staaten des Globalen Südens. In offenem Widerspruch zu Deutschland und den anderen westlichen Mächten weist Brasilien jegliche Waffenlieferung an die Ukraine zurück und dringt auf eine Vermittlungsinitiative zur Beendigung des Ukraine-Kriegs.

Brasilien verstehe sich als „Land des Friedens“ und lehne jede Beteiligung an dem Krieg ab, antwortete Präsident Luiz Inácio Lula da Silva am Montag beim Besuch von Kanzler Olaf Scholz auf die Forderung Berlins, Kiew Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard zur Verfügung zu stellen. Statt den Krieg immer nur mit weiteren Waffen zu befeuern, müsse eine Vermittlungsinitiative gestartet werden. Lula urteilt, besonders China, aber auch Indien und Indonesien könnten dazu einen Beitrag leisten. Scholz unterstützt die Initiative aus dem Globalen Süden für eine Beendigung der Kämpfe nicht; am Montag erhob er vielmehr Einwände gegen sie. Dabei dringen immer mehr Regierungen besonders im Globalen Süden auf eine Verhandlungslösung; zuletzt sprachen sich zum Beispiel Kolumbien und Ägypten, aber auch Israel dafür aus.

Damit zeichnet sich ein Gegenpol zum Bestreben des Westens ab, seine bisherige globale Dominanz in und mit dem Ukraine-Krieg zu behaupten. (...)

Der Staatenbund Mercosur etwa weigerte sich, den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj auf seinem Gipfeltreffen am 21. Juli in Asunción öffentlichkeitswirksam auftreten zu lassen. Bereits zuvor war in Chile der ultrarechte Partido Republicano mit dem Versuch gescheitert, Selenskyj eine Rede vor dem chilenischen Parlament zu ermöglichen. (...)

Mit der Forderung, sich an der Lieferung von Munition und Waffen an die Ukraine zu beteiligen,

beißt der Westen in Lateinamerika bislang auf Granit. (...)

„Brasilien ist ein Land des Friedens“,

erklärte Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, deswegen wolle es „keinerlei Beteiligung an diesem Krieg – auch nicht indirekt“. (...)

Und Kolumbiens Präsident Gustavo Petro:

„Keine russische Waffe, die Kolumbien gekauft hat, wird im bewaffneten Konflikt in der Ukraine eingesetzt werden.“

Petro fügte hinzu, Lateinamerika solle sich, anstatt Kriegsgerät zu liefern, um Frieden bemühen.

Argentiniens Präsident Alberto Fernández erklärte am Samstag bei einer gemeinsam mit BK Scholz durchgeführten Pressekonferenz:

„Argentinien und Lateinamerika denken nicht daran, Waffen zu schicken“.

Der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador wiederum übte offene Kritik an der Entscheidung der Bundesregierung, Kiew Kampfpanzer zu liefern – eine klare Bestätigung, dass aus Mexiko trotz allen US-Drucks keinerlei Waffenhilfe, sondern Unterstützung für Vermittlungsversuche zu erwarten ist. (...)

Damit stellt sich der brasilianische Präsident in offenen Widerspruch zu den westlichen Mächten inklusive Deutschland, die – weit davon entfernt, ernsthaft mit Moskau und Kiew zu verhandeln – den Ukraine-Krieg mit immer neuen Waffenlieferungen stets weiter befeuern.

pressenza.com, GERMAIN-FOREIGN-POLICY.com, 09.02.2023


Reaching a Just and Lasting Peace in Ukraine: A Conversation with Jeffrey Sachs

Von Jeffrey Sachs habe ich mittlerweile einige Videos und Interviews gesehen, Artikel gelesen (siehe auch hier unten "Leitfaden für den Frieden") - aber dieses Interview sticht heraus! Es hat mich sehr getroffen, denn ich habe J. Sachs bisher noch nie so defätistisch und niedergeschlagen, geradezu hoffnungslos und auch verängstigt erlebt wie in diesem Gespräch. Er nutzt das Interview für einen verzweifelten Appell an einfach alle. Lediglich als er über die kommenden G 20 - Präsidentschaften spricht (in der Mitte und ganz am Ende) und in Verbindung mit den Stimmen der Friedensinitiativen spürt man noch einen Funken Hoffnung. Das war bisher anders.

"Stop this reckless Nato-enlargement -

which was a lie from the beginning. A violation of agreements made to president Gorbatschow all the way back in 1990 and hopelessly provocative and dangerous.

And that is the key to getting a world back to some protection and some hope for survival.

So, thank you very much -

we need your voices, everywhere, in every country,

for governments to stand up clearly at the UN and in every other form to say:

Stop this war now!

Stop the escalation!

Stop the hate talk!

And sit down and negotiate a peace that respects the security interests of all of the parties and 

stop the military expansion!

This is the route of this war. (...)"

"Last year, the US and Europe said "okay, the whole world is in a line against russian aggression, while actually it wasn`t like that. The vast majority of the worlds`governments said: "Stop the fighting, we don`t take sides, we don`t join your sanctions, we don`t view this is a one-sided affair. (...)

And India has a special role for play (...), it`s the presidency of the G 20 this year. And so India has plenty of opportunity to push hard for peace and negotiations. Brazil will host the G 20 next year. President Lula is very clear that what is needed right now is not a military victory on the battlefield. This is a reckless illusion - what is needed is negotiations and an end to the Nato-enlargement. South-Africa, which has said the same, will be president of the G 20 in 2025. So, I believe that these countries have a huge role to play. I think the African Union should make a strong statement. (...)

But I would say, there`s not a government in the world that can`t contribute to the momentum of demand for negotiations by saying to the big powers:

"We do not agree with the approach of winning on the battlefield.

Because that endangers the whole world - of course first Ukraine, but actually the entire world with nuclear war.

And we demand therefore a negotiation now."

How can they even think to send tanks right now without even mentioning the word negotiations.

Shame on them! Shame!"

"On the vatican meeting, I can tell you, the US government, the government of Ukraine and others were very unhappy in general about any calls for negotiations. This is incredible to me. (...) We´ve gone a whole year without any negotiations - shock!

And especially we´ve gone a whole year without Biden speaking with Putin - once. (...)

The narratives are so phony and so much propaganda that more and more channels are finding ways to see the truth. (...)

Reiner Braun:

"I definitely can underline when I say: IPB will do the best for promoting the ideas of negotiations on ceasefire and we will definitely continue working on this!"

Jeffrey Sachs:

"To people all over the world: thank you for your commitment to peace.

We will all work together on this."


Friedenspläne für die Ukraine | IPB

"Der Krieg in der Ukraine verursacht Leid, Tod und Verwüstung. Mit jedem Tag, der vergeht, werden mehr und mehr Menschen getötet, körperlich verletzt oder psychisch traumatisiert.

 

Mit fortschreitendem Krieg steigt das Risiko, dass er sich auf andere Staaten ausbreitet oder eskaliert. Unter anderem hat der Krieg in der Ukraine die globale Nahrungsmittelkrise verschärft, indem er Lieferketten bedroht und die Preise für Lebensmittel, Dünger und Treibstoff in die Höhe treibt.

 

Hier finden Sie eine Sammlung von Vorschlägen und Möglichkeiten für einen Waffenstillstand sowie Wege zur Lösung der Konflikte zwischen Russland und der Ukraine."

"Die folgenden Vorschläge müssen mitberücksichtigt werden:

- Die Minsk I- und -II -Abkommen (Normandy-Format)

- Instanbul-10-Punkte-Plan zwischen der ukrainischen und russischen Regierung vom 29. März 2022 (dt. Übersetzung: neue entspannungspolitik.berlin)

- Friedensplan der italienischen Regierung aus dem Mai 2022

- Vatikanische internationale Arbeitsgruppe, angeführt durch den ehemaligen MP Prodi und den US-Ökonomen Jeffrey Sachs "gerechter und dauerhafter Frieden in der Ukraine" aus dem Juni 2022

- russischer Vertragsentwurf aus dem Dezember 2021"

"The UN must play a central role throughout the peace process."

"Anhand dieser Grundlagen (Vorschläge) schlägt das IPB folgende Überlegungen vor (sinngemäß zusammengefasst; vgl. S. 28-30):

- ein ausgewogener Waffenstillstand mittels Mediatoren muss das vorrangige Ziel sein

- demilitarisierte Zonen mit dort stationierten UN-Blauhelmen mit besonderem Augenmerk auf die Regionen rund um Atomkraftwerke

- schrittweiser Abzug russischer Truppen

- umfassende Autonomie für den Donbass unter UN-Beobachtung

- Neutralität der Ukraine und Ablehnung des Nato-Beitritts, wie in Istanbul vereinbart

- Sicherheitsgarantien für die Ukraine - bestenfalls von denen, die nicht Teil des Konflikts sind, wie Indien, Türkei oder Südafrika

- bzgl. der Krim könnte ein Referendum unter internationaler/UN-Kontrolle durchgeführt werden; als Beispiel dafür könnte das 10 Jahre lang nach dem Krieg unter französischer Verwaltung gestandene Saarland dienen

- es sollte ein internationales Aufbauprogramm für alle vom Krieg betroffenen Länder ins Leben gerufen und einen Fonds für humanitäre Hilfe unter UN-Kontrolle eingerichtet werden

- ökonomische, politische, kulturelle und soziale Sanktionen sollten schrittweise abgebaut und durch ökonomische Beziehungen zum beiderseitigen Nutzen ersetzt werden

- Als weiteren Anreiz für Russland werden Verhandlungen über strategische Rüstungskontrolle in Europa aufgenommen. Das Ziel ist zumindest der Abzug der US-amerikanischen und russischen Atomwaffen aus Europa oder besser ein atomwaffenfreies Europa.

- In langfristiger Perspektive sollte eine Debatte über eine neue, europäische Sicherheitsarchitektur begonnen werden mit dem Ziel einer Friedenskonferenz 2025. Wir brauchen eine europäische Sicherheitsarchitektur, ein gemeinsames europäisches Haus von Lissabon bis Wladiwostock.

- Der Kontakt zwischen den Menschen wird sofort wieder ermöglicht; Begegnungen, Diskurse und ein Austausch werden intensiviert und frei von Repressionen ermöglicht.

- Alle Länder sollten erwägen, allen Menschen, die vor der Wehrpflicht fliehen und der Zwangsmobilisierung in die Streitkräfte, Zuflucht zu gewähren - nicht notwendigerweise Asyl - als positive Aktion zur Konfliktbewältigung.

- Alle Länder sollten das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in allen Teilen der Gesellschaft, einschließlich der indigenen Bevölkerung, gemäß den internationalen Menschenrechtsstandards anerkennen.

- Sprache, die jedwede Partei dämonisiert, sollte vermieden werden, während Handlungen gegen den Frieden wahrgenommen werden müssen."

Eigene Übersetzung aus dem Englischen, TS

"All dies wird nicht gelingen ohne intensives Engagement und Aktionen der Friedensbewegungen und anderer sozialer Bewegungen, die eine soziale Atmosphäre der Zusammenarbeit und des Dialogs schaffen.

Sie müssen aktiv dazu beitragen, dass die Logik des Friedens Vorrang vor der Logik des Krieges hat.

Daher sollten alle Schritte der Friedensentwicklung von Aktionen der Friedens- und Sozialbewegungen begleitet werden.

Darüber hinaus müssen diese Bewegungen ihre Proteste gegen die Militarisierung in ihren eigenen Ländern und in ganz Europa ausweiten und intensivieren." Übersetzung aus dem Englischen, S. 30

IPB, Berlin, 19.10.2022


"ERICH VAD: WAS SIND DIE KRIEGSZIELE?"

"Erich Vad ist Ex-Brigade-General. Von 2006 bis 2013 war er der militärpolitische Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Er gehört zu den raren Stimmen, die sich früh öffentlich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen haben, ohne politische Strategie und diplomatische Bemühungen. Auch jetzt spricht er eine unbequeme Wahrheit aus."

"Herr Vad, was sagen Sie zu der gerade von Kanzler Scholz verkündeten Lieferung der 40 Marder an die Ukraine?"
"Das ist eine militärische Eskalation, auch in der Wahrnehmung der Russen – auch wenn der über 40 Jahre alte Marder keine Wunderwaffe ist. (...) Nun müssen doch endlich die Folgen bedacht werden! (...)
 ohne ein politisch strategisches Gesamtkonzept sind Waffenlieferungen Militarismus pur. (...) Wir haben eine militärisch operative Patt-Situation, die wir aber militärisch nicht lösen können. Das ist übrigens auch die Meinung des amerikanischen Generalstabschefs Mark Milley. Er hat  gesagt, dass ein militärischer Sieg der Ukraine nicht zu erwarten sei und dass Verhandlungen der einzig mögliche Weg seien. Alles andere bedeutet den sinnlosen Verschleiß von Menschenleben. (...)

Er hat eine unbequeme Wahrheit ausgesprochen. Eine Wahrheit, die in den deutschen Medien übrigens so gut wie gar nicht publiziert wurde. Das Interview mit Milley von CNN tauchte nirgendwo größer auf, dabei ist er der Generalstabschef unserer westlichen Führungsmacht. (...) Militärische Fachleute - die wissen, was unter den Geheimdiensten läuft, wie es vor Ort aussieht und was Krieg wirklich bedeutet - werden weitestgehend aus dem Diskurs ausgeschlossen. Sie passen nicht zur medialen Meinungsbildung. Wir erleben weitgehend eine Gleichschaltung der Medien, wie ich sie so in der Bundesrepublik noch nie erlebt habe. Das ist pure Meinungsmache. (...) Dabei ist die Mehrheit der Bevölkerung schon länger und auch laut aktueller Umfrage gegen weitere Waffenlieferungen. Das alles wird jedoch nicht berichtet. (...)

Militärische Operationen müssen immer an den Versuch gekoppelt werden, politische Lösungen herbeizuführen.

 Die Eindimensionalität der aktuellen Außenpolitik ist nur schwer zu ertragen. Sie ist sehr stark fokussiert auf Waffen. Die Hauptaufgabe der Außenpolitik aber ist und bleibt Diplomatie, Interessenausgleich, Verständigung und Konfliktbewältigung. Das fehlt mir hier. (...) es reicht nicht, nur Kriegsrhetorik zu betreiben und mit Helm und Splitterschutzweste in Kiew oder im Donbass herumzulaufen. Das ist zu wenig. (...)"

"Nun geht das Sterben weiter."
"Man kann die Russen weiter abnutzen, was wiederum Hunderttausende Tote bedeutet, aber auf beiden Seiten. Und es bedeutet die weitere Zerstörung der Ukraine. Was bleibt denn von diesem Land noch übrig? Es wird dem Erdboden gleichgemacht. (...)"

"Aber was könnte die Lösung sein?"

"Man sollte die Menschen in der Region, also im Donbass und auf der Krim, einfach fragen, zu wem sie gehören wollen.

Man müsste die territoriale Integrität der Ukraine wiederherstellen, mit bestimmten westlichen Garantien. Und die Russen brauchen so eine Sicherheitsgarantie eben auch. Also keine Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine. Seit dem Gipfel von Bukarest von 2008 ist klar, dass das die rote Linie der Russen ist. (...) Es muss sich in Washington eine breitere Front für Frieden aufbauen. Und dieser sinnfreie Aktionismus in der deutschen Politik, der muss endlich ein Ende finden.

Sonst wachen wir eines Morgens auf und sind mittendrin im III. Weltkrieg."

emma.de, Annika Ross im Interview mit Erich Vad, 12.01.2023


Henry Kissinger

"Wie man einen weiteren Weltkrieg vermeidet"

"Der I. Weltkrieg war eine Art kultureller Selbstmord, der Europas Eminenz zerstörte. Europas Führer schlafwandelten – in den Worten des Historikers Christopher Clark –in einen Konflikt, in den keiner von ihnen eingetreten wäre, wenn sie die Welt am Ende des Krieges 1918 vorhergesehen hätten. (...)

Es ist an der Zeit, auf den bereits erreichten strategischen Veränderungen aufzubauen und sie in eine neue Struktur zu integrieren, um Frieden durch Verhandlungen zu erreichen. (...)

Ein Friedensprozess würde 2 Ziele verfolgen: die Bekräftigung der Freiheit der Ukraine und die Definition einer neuen internationalen Struktur, insbesondere für Mittel- und Osteuropa. Schließlich sollte Russland einen Platz in einer solchen Ordnung finden. (...)

Das Streben nach Frieden und Ordnung hat 2 Komponenten, die manchmal als widersprüchlich behandelt werden: das Streben nach Elementen der Sicherheit und die Notwendigkeit von Versöhnungshandlungen... Der Weg der Diplomatie mag kompliziert und frustrierend erscheinen. Aber der Fortschritt erfordert sowohl die Vision als auch den Mut, die Reise auf sich zu nehmen."

spectator.co.uk, Henry Kissinger, 17.12.2022


Jeffrey Sachs: A Negotiated End to Fighting in Ukraine Is the Only Real Way to End the Bloodshed

Ein ausgehandeltes Ende der Kämpfe in der Ukraine ist der einzige wirkliche Weg, das Blutvergießen zu beenden

"Da der Krieg in der Ukraine nun in seinem 10. Monat ist, haben der russische Präsident Wladimir Putin und der US-Präsident Joe Biden beide ihre Offenheit für Friedensgespräche zur Beendigung der Kämpfe bekundet, ebenso wie die Führer in Frankreich, Deutschland und anderswo. Dies kommt daher, dass sich Millionen von Ukrainern aufgrund russischer Angriffe auf die ukrainische zivile Infrastruktur auf einen Winter ohne Heizung oder Strom vorbereiten.

"Dieser Krieg muss beendet werden, denn er ist eine Katastrophe für alle, eine Bedrohung für die ganze Welt“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler und Außenpolitiker Jeffrey Sachs, Direktor des Zentrums für nachhaltige Entwicklung an der Columbia University. Er sagt, dass 4 Hauptprobleme für ein Kriegsende angegangen werden müssen: Die Souveränität und Sicherheit der Ukraine, die NATO-Erweiterung, das Schicksal der Krim und die Zukunft der Donbass-Region."


Ein Leitfaden für Vermittler zum Frieden in der Ukraine

Der Ukraine-Krieg ist ein extrem gefährlicher Krieg zwischen nuklearen Supermächten in einer Welt, die dringend Frieden und Zusammenarbeit braucht.

Es gibt einen neuen Hoffnungsschimmer für ein schnelles ausgehandeltes Ende des Krieges in der Ukraine

In seiner jüngsten Pressekonferenz mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron erklärte Präsident Joe Biden: „Ich bin bereit, mit Herrn Putin zu sprechen, wenn tatsächlich ein Interesse daran besteht, dass er entscheidet, dass er nach einem Weg sucht, den Krieg zu beenden. Das hat er noch nicht gemacht. Wenn das der Fall ist, setze ich mich in Absprache mit meinen französischen und meinen NATO-Freunden gerne mit Putin zusammen, um zu sehen, was er will und im Sinn hat.“ Der Sprecher von Präsident Wladimir Putin antwortete, dass Russland zu Verhandlungen bereit sei, um „unsere Interessen zu wahren“.   

Jetzt ist die Zeit für eine Vermittlung auf der Grundlage der Kerninteressen und des Verhandlungsspielraums der drei Hauptkonfliktparteien: Russland, Ukraine und die Vereinigten Staaten.

Der Krieg verwüstet die Ukraine.

Nach Angaben von EU-Präsidentin Ursula von der Leyen hat die Ukraine bereits 100.000 Soldaten und 20.000 Zivilisten verloren. Nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland, die USA und die EU – ja die ganze Welt – werden enorm von einem Ende des Konflikts profitieren und sowohl die nukleare Angst, die heute über der Welt hängt, als auch die verheerenden wirtschaftlichen Folgen des Krieges beseitigen.

Kein Geringerer als der Vorsitzende der US Joint Chiefs of Staff, General Mark A. Milley, hat auf eine politische Verhandlungslösung des Konflikts gedrängt und festgestellt , dass die Chance der Ukraine auf einen militärischen Sieg „nicht hoch“ sei.

Es gibt vier Kernthemen zu verhandeln: Souveränität und Sicherheit der Ukraine; die heikle Frage der NATO-Erweiterung; das Schicksal der Krim; und die Zukunft des Donbass.

Die Ukraine verlangt vor allem, ein souveränes Land zu sein, frei von Russlands Vorherrschaft und mit sicheren Grenzen. Es gibt einige in Russland, darunter vielleicht Putin selbst, die glauben, dass die Ukraine wirklich ein Teil Russlands ist. Es wird keinen Verhandlungsfrieden geben, ohne dass Russland die Souveränität und nationale Sicherheit der Ukraine anerkennt, gestützt durch ausdrückliche internationale Garantien des UN-Sicherheitsrates und Nationen wie Deutschland, Indien und Türkei.

Russland verlangt vor allem, dass die NATO auf ihre Absicht verzichtet, sich auf die Ukraine und Georgien auszudehnen, die Russland im Schwarzen Meer vollständig einkreisen würden (und die Ukraine und Georgien zu den bestehenden Schwarzmeer-NATO-Mitgliedern Bulgarien, Rumänien und der Türkei hinzufügen würden). Die NATO bezeichnet sich selbst als Verteidigungsbündnis, doch Russland ist anderer Meinung, da es die Vorliebe der USA für Regimewechseloperationen gegen Regierungen, die es bekämpft, genau kennt (einschließlich der Ukraine im Jahr 2014 mit der Rolle der USA beim Sturz des damaligen pro-russischen Präsidenten Viktor Janukowitsch). 

Russland beansprucht die Krim auch als Heimat der russischen Schwarzmeerflotte seit 1783. Putin warnte George Bush Jr. im Jahr 2008, dass Russland die Krim zurückerobern würde, wenn die USA die NATO in die Ukraine drängen würden, die der sowjetische Führer Nikita Chruschtschow 1954 von Russland in die Ukraine verlegt hatte. Bis zum Sturz Janukowitschs wurde die Krim-Frage vorsichtig durch russisch-ukrainische Abkommen gehandhabt, die Russland einen langfristigen Pachtvertrag für seine Marineeinrichtungen in Sewastopol auf der Krim einräumten.   

Die Ukraine und Russland streiten sich heftig über den Donbass mit seiner überwiegend ethnisch russischen Bevölkerung. Während die ukrainische Sprache und kulturelle Identität im größten Teil der Ukraine vorherrschen, überwiegen im Donbass die russische kulturelle Identität und Sprache. Nach dem Sturz von Janukowitsch wurde der Donbass zu einem Schlachtfeld zwischen pro-russischen und pro-ukrainischen Paramilitärs, wobei die pro-russischen Kräfte die Unabhängigkeit des Donbass erklärten. 

Das Minsk-II-Abkommen von 2015 war ein diplomatisches Abkommen zur Beendigung der Kämpfe auf der Grundlage der Autonomie (Selbstverwaltung) für die Donbass-Region innerhalb der ukrainischen Grenzen und der Achtung der russischen Sprache und Kultur. Nach der Unterzeichnung machten die ukrainischen Führer deutlich, dass sie das Abkommen ablehnen und es nicht einhalten würden. Obwohl Frankreich und Deutschland Garanten des Abkommens waren, drängten sie die Ukraine nicht, sich daran zu halten. Aus russischer Sicht lehnten die Ukraine und der Westen damit eine diplomatische Lösung des Konflikts ab. 

Ende 2021 bekräftigte Putin die Forderung Russlands nach keiner weiteren Erweiterung der Nato, insbesondere gegenüber der Ukraine. Die USA weigerten sich, über die NATO-Erweiterung zu verhandeln. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte damals provozierend, dass Russland in dieser Angelegenheit kein Mitspracherecht habe und dass nur NATO-Mitglieder entscheiden würden, ob Russland im Schwarzen Meer eingekreist werde oder nicht. 

Im März 2022, einen Monat nach der russischen Invasion, machten Putin und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wesentliche Fortschritte bei einem pragmatischen, ausgehandelten Ende des Krieges, basierend auf der Nichterweiterung der NATO, internationalen Souveränitäts- und Sicherheitsgarantien für die Ukraine und den Krim-Fragen und des Donbass sollten friedlich gelöst werden. Türkische Diplomaten waren die sehr erfahrenen Vermittler. 

Doch dann entfernte sich die Ukraine vom Verhandlungstisch, vielleicht auf Drängen Großbritanniens und der USA, und verfolgte die Politik, Verhandlungen abzulehnen, bis Russland durch Militäraktionen aus der Ukraine vertrieben wurde. Der Konflikt eskalierte daraufhin, Russland annektierte nicht nur die beiden Regionen des Donbass (Luhansk und Donezk), sondern auch die Regionen Cherson und Saporischschja. Kürzlich hat Selenskyj die Situation angeheizt, indem er forderte, die ukrainischen Verbindungen zu russisch-orthodoxen Institutionen abzubrechen, die religiösen Bindungen ethnischer Russen und vieler ethnischer Ukrainer zu brechen, die ein Jahrtausend zurückreichen.

Da sich sowohl die USA als auch Russland jetzt vorsichtig dem Verhandlungstisch nähern, ist die Zeit für eine Vermittlung nahe.

Mögliche Vermittler sind die Vereinten Nationen, Türkei, Papst Franziskus, China und vielleicht andere in irgendeiner Kombination. Die Konturen erfolgreicher Mediation sind eigentlich klar, ebenso wie die Basis für eine Friedensregelung. 

Der Hauptpunkt für die Mediation ist, dass alle Parteien berechtigte Interessen und berechtigte Beschwerden haben.

Russland ist fälschlicherweise und gewaltsam in die Ukraine eingedrungen. Die USA haben sich 2014 fälschlicherweise beim Sturz von Janukowitsch verschworen und dann die Ukraine schwer bewaffnet, während sie die NATO-Erweiterung vorangetrieben haben, um Russland im Schwarzen Meer einzukreisen. Nach Janukowitsch weigerten sich die ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko und Wolodymyr Selenskyj, das Abkommen von Minsk II umzusetzen. 

Frieden wird kommen, wenn

die USA von einer weiteren NATO-Erweiterung in Richtung Russlands Grenzen zurücktreten;

Russland seine Streitkräfte aus der Ukraine abzieht und von der einseitigen Annexion ukrainischen Territoriums abweicht;

die Ukraine von ihren Versuchen zurückweicht, die Krim zurückzuerobern, und von ihrer Ablehnung des Minsk-II-Rahmens;

und alle Parteien zustimmen, die souveränen Grenzen der Ukraine gemäß der UN-Charta zu sichern und durch die Garantien des UN-Sicherheitsrates und anderer Nationen abzusichern.

Der Ukraine-Krieg ist ein extrem gefährlicher Krieg zwischen nuklearen Supermächten in einer Welt, die dringend Frieden und Zusammenarbeit braucht.

Es ist an der Zeit, dass die USA und Russland, zwei Großmächte der Vergangenheit und der Zukunft, ihre Größe durch gegenseitigen Respekt, Diplomatie und gemeinsame Bemühungen zur Gewährleistung einer nachhaltigen Entwicklung für alle zeigen – einschließlich für die Menschen in der Ukraine, die am dringendsten Frieden und Wiederaufbau brauchen. 

Jeffrey D. Sachs ist Universitätsprofessor und Direktor des Center for Sustainable Development an der Columbia University, wo er von 2002 bis 2016 das Earth Institute leitete. Er ist Präsident des UN Sustainable Development Solutions Network, Co-Chair des Council of Engineers for the Energy Transition, Kommissar der UN Broadband Commission for Development, Akademiker der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften im Vatikan und Tan Sri Jeffrey Cheah Honorary Distinguished Professor an der Sunway University. Er war Sonderberater von drei Generalsekretären der Vereinten Nationen und dient derzeit als SDG-Anwalt unter Generalsekretär António Guterres. Er verbrachte über zwanzig Jahre als Professor an der Harvard University, wo er seinen BA, MA und Ph.D. Grad. Sachs erhielt 41 Ehrendoktorwürden. Zu seinen jüngsten Auszeichnungen zählen der Tang-Preis 2022 für nachhaltige Entwicklung, die Ehrenlegion per Dekret des Präsidenten der Republik Frankreich und der Kreuzorden des Präsidenten von Estland. Seine neuesten Bücher sind The Ages of Globalization: Geography, Technology, and Institutions (2020) und Ethics in Action for Sustainable Development (2022).


"Perspektiven nach dem Ukrainekrieg"

Europa auf dem Weg zu einer neuen Friedensordnung?

Julian Nida-Rümelin, Mattias Kumm, Erich Vad, Albrecht von Müller, Werner Weidenfeld, Antje Vollmer, 07.11.2022

Da es m.E. bzgl. des Ukrainekrieges nichts Essentielleres gibt, als über den Tellerrand hinaus zu blicken, endlich eine breite Debatte zu führen (bzw. zuzulassen), Alternativen zur rein militärischen Logik zu erörtern und zu eruieren, ernsthaft einen Weg aus der Eskalationsspirale zu suchen und die Frage nach der künftigen Friedensordnung in Europa und der Welt zu stellen, möchte ich an dieser Stelle den Autoren dieses Buches ganz herzlich danken. Sie haben in 6 verschiedenen Stellungnahmen aus unterschiedlichen Perspektiven eine umfangreiche, sachlich-analytische, ehrliche, menschenfreundliche und faktenbasierte Grundlage für eine fruchtbare Debatte geschaffen.

Dabei sind ihre gemeinsamen Ziele eine Versachlichung der Debatte und der Appell für eine deeskalatorische, realpolitische und besonnene Politik, um den Frieden nachhaltig zu sichern und eine tragfähige neue Sicherheitsarchitektur zu schaffen. (TS)

„Zu den Gefühlen, die uns der Krieg einflößt, gehört leidenschaftlicher Mitschmerz; denn die Gräuel, die himmelschreienden Leiden, der er verursacht, gehen schon über die Grenzen des Erträglichen hinaus. Er nimmt ja täglich mit jeder neuen Heeresverstärkung, jeder neuen Erfindung an Fürchterlichkeit zu [ …] All dem Elend muss man ins Gesicht sehen, aber nicht um es als Unglück zu beklagen, sondern als Schlechtigkeit anzuklagen!

Denn es ist keine Elementarkatastrophe, es ist das Ergebnis menschlichen Irrwahns und menschlicher Fühllosigkeit.“
Bertha von Suttner (Bertha von Suttners letzter Brief an die dt. Frauen, 1914)

„Der Krieg in der Ukraine hat alle Hoffnung zerstört, dass Europa keine bewaffneten Konflikte mehr erlebt. Wieder, wie nach dem II. Weltkrieg und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, muss eine neue Friedensordnung gefunden werden. Dazu muss über die aktuelle militärische Lage im Ukrainekrieg hinaus gedacht werden. Die Autoren dieses Buches eint die Sorge um eine Verkürzung der aktuellen Debatten auf die militärische Logik und gleichzeitig eine falsche Moralisierung der Außenpolitik. Sie eröffnen unterschiedliche Perspektiven für eine neue Realpolitik, in der die Interessen der Ukraine berücksichtigt und zugleich die Chancen für stabile Sicherheit und Frieden ausgelotet werden.
Fundierte Debattenbeiträge renommierter Experten aus unterschiedlichen Disziplinen und mit unterschiedlichen Einstellungen, die dringend gebraucht werden.lovelybooks.de

Für einen kleinen Einblick möchte ich im Folgenden ein paar Ausschnitte aus dem Buch zitieren, allerdings sollte es unbedingt wegen der Zusammenhänge komplett gelesen werden:

Julian Nida-Rümelin:

„Im Wall Street Journal hat Henry Kissinger dieses Unbehagen am 15. August 2022 in einem Interview sehr deutlich zum Ausdruck gebracht: „Wir stehen am Rande eines Krieges mit Russland und China in Fragen, die wir zum Teil selbst verursacht haben, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie das Ganze enden wird und wozu es führen soll.“ Die öffentliche Debatte hat sich sehr rasch nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022 neu formatiert. Führende Vertreter einer Partei, die noch im Wahlkampf strikt jede Waffenlieferung an die Ukraine abgelehnt hatte, warben nun für möglichst rasche und massive Waffenlieferungen und formulierten als Ziel einen uneingeschränkten Sieg der Ukraine über Russland. Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag warnte davor, das Risiko eines Nuklearschlages oder gar einer Eskalation zum Atomkrieg zu berücksichtigen, denn damit spiele man dem Aggressor in die Hände.“

„Wirtschaftliche Interdependenz erhöht die Kosten kriegerischer Konflikte. Sie ist friedens- und sicherheitspolitisch wünschenswert.“

„Die Ausdehnung von Einflusszonen durch Stellvertreterkriege, militärische Interventionen und innenpolitische Interventionen muss in Zukunft von allen Seiten unterbleiben.“

„Die Phase der Missverständnisse und der daran anschließenden Sprach- und Kommunikationslosigkeit muss beendet und eine Phase der Klärung von Standpunkten und Interessenlagen mit nachfolgenden internationalen Verhandlungen folgen.“

„Um eine Perspektive für die Zeit nach dem Krieg in der Ukraine zu entwickeln, ist es erforderlich, sich ein realistisches Bild der Konfliktursachen zu machen. Kriegszeiten sind immer auch Hochzeiten der Propaganda und der Ideologie.

„Während der einflussreiche US-Diplomat George F. Kennan die Administration Bill Clinton 1997 scharf dafür kritisierte, die NATO bis zu den Grenzen Russlands ausdehnen zu wollen, und vom „verhängnisvollsten Fehler der amerikanischen Politik in der Ära nach dem Kalten Krieg“ sprach, befürwortete der damalige demokratische Außenpolitiker Senator Joe Biden vor dem Atlantic Council am 18. Juni 1997 eine Erweiterung der NATO nach Osten und ein faires „burden sharing“, warnte aber zugleich davor, Russland durch die Osterweiterung bis an seine Grenzen zu provozieren: „Wenn es jemals etwas gäbe, welches das Gleichgewicht im Sinne einer heftigen und feindseligen Reaktion - ich meine nicht militärisch - in Russland kippen könnte, dann wäre es das.“

Mattias Kumm:

„Die gesamte Diskussion im Westen erschöpft sich in Fragen, welche Waffen an die Ukraine geliefert werden sollen und wie scharf die Sanktionen gegen Russland sein sollten.“

„Die Frage ist, welche Strukturmerkmale der bestehenden Ordnung es sind, die eine solche destruktive Dynamik des Großmachtwettbewerbs ermöglichen, und wie die internationale Rechtsordnung reformiert werden müsste, um diese Dynamik zu unterbinden.“

„Da das geostrategisch-politisch-militärische globale Konfliktgeschehen vor allem von konkurrierenden Mächten (und deren Allianzen und Vasallen) dominiert wird, die im UN-Sicherheitsrat ein Vetorecht haben, ist der UN-Sicherheitsrat in seiner bestehenden Form nicht geeignet, das zu leisten, was er Roosevelt’schen Vorstellungen zufolge leisten sollte.“

„In seiner ursprünglich vorgesehenen Form setzt der UN-Sicherheitsrat ein kooperatives Verhältnis zwischen den P5-Großmächten voraus, das aber allgemein weder im Kalten Krieg noch in den letzten Jahrzehnten existierte.“

Waffenlieferungen an die Ukraine und wirtschaftliche Sanktionen werden fast ausschließlich vom Westen und von Staaten unter dem nuklearen Schutzschild der USA getragen. Grund dafür sind nicht nur wirtschaftliche Interessen und Abhängigkeiten. Von zentraler Bedeutung sind auch eine in der außerwestlichen Welt weit verbreiteten Kritik westlicher Hypokrisie und der Vorwurf, mit verschiedenen Maßstäben zu messen.“

„Für Deutschland und Europa ist keine Zeit, sich wegzuducken und auf eigene Handlungsfähigkeit und strategische Ausrichtung zu verzichten.“

Erich Vad:

„Schließlich, am Vorabend des I. Weltkrieges, hatten in Deutschland militärische Erwägungen den Vorrang vor politischen Lösungswegen erhalten. Das führte in die Katastrophe. Die damalige Außen- und Sicherheitspolitik war gänzlich militärischen Interessen untergeordnet worden.“

„Beenden lassen sich Kriege nur politisch, nicht militärisch.“

„Wir müssten gelernt haben, dass ein ungerechter Friede wie der 1919 in Versailles geschlossene die Kriegswahrscheinlichkeit gewaltig erhöht. Das bedeutet für heute, dass man in der Ukraine einen Diktatfrieden jeder Art und von jeder Seite verhindern muss.“

„Die richtige Aussage ist nicht: Wir setzen militärisch auf einen Sieg der Ukraine über Russland, sondern: Wir unterstützen die Ukraine dabei, eine Niederlage und damit einen Diktatfrieden Putins abzuwenden. Damit bekämen wir einen Ansatzpunkt zu diplomatisch-politischen Verhandlungen. Dann könnte man einen Waffenstillstand aushandeln, der realpolitisch für beide Seiten annehmbar wäre. Er müsste die Rechte der Ukrainer und ihrer russischsprachigen Bevölkerung genauso ernst nehmen wie die Sicherheitsinteressen Russlands.

„Bei Rüstungsexportentscheidungen tat sich Deutschland in der Vergangenheit im Gegensatz zu den meisten Partnern im Bündnis immer sehr schwer; heute hingegen fällt es unreflektiert und bar jeder politisch mäßigenden Vernunft plötzlich ins andere Extrem.

„Letztlich hat die Ukraine mit Hilfe des Westens militärisch nur eine Chance, wenn sie sich in einen langjährigen Abnutzungs- und Guerillakrieg begibt, der - neben der jederzeit möglichen Eskalation zu einem Weltkrieg - das Land verwüsten würde.“

„Wir müssen aufhören, im politischen Diskurs um Krieg und Frieden von einem Extrem ins andere zu verfallen und unsere vermeintliche moralische Prinzipienfestigkeit über jede realpolitische Vernunft zu setzen.“

„Was mich irritiert, ist diese Politik aus vermeintlich reiner Gesinnung unter Ausklammerung der Folgen, ohne jede Strategie, die vom Ende her denkt, und unter Hintanstellung von Verantwortung für das eigene Land.“

„Aus geostrategischer Sicht ist eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine so wenig akzeptabel für Russland wie z.B. für die USA ein Beitritt zur Eurasischen Union durch Kanada oder eine Unabhängigkeitserklärung Taiwans für China oder ein freies Kurdistan für die Türkei. Man könnte diese Beispiele fortführen.“

„Die Frage, die man sich also stellen muss, lautet: Zu welchem Preis kämpft man weiter?

Dajan hat seinen Gesinnungswandel später erklärt mit den Worten: „Wenn du Frieden willst, redest du nicht mit deinen Freunden. Du redest mit deinen Feinden.“ Darum geht es auch heute.“

Albrecht von Müller:

„Der Kern der kulturellen Identität Europas lässt sich wie folgt definieren: Durch eine immer wieder neu auszutarierende Balance zwischen individueller Freiheit und sozialer Verantwortung sollen der Grundwert der Menschenwürde in allen Lebensbereichen möglichst gut umgesetzt und die Voraussetzungen für ein „gelingendes Leben“ geschaffen werden. Kombiniert mit der einzigartigen historisch-kulturellen Vielfalt Europas, macht gerade dieser Balanceakt unsere Einzigartigkeit aus - auch im Vergleich zu den USA und erst recht natürlich im Vergleich zu anderen Mächten wie China, Russland oder Indien.“

„Europa darf sich nicht länger primär nur auf Sekundärnützlichkeiten wie Wirtschaftswachstum, bequemen Reisemöglichkeiten oder erleichterten Finanzmarkttransaktionen gründen. Im Kern geht es darum, im Wettbewerb mit anderen Weltregionen eine Pionierrolle in der bestmöglichen Entfaltung des Potenzials des Menschseins wahrzunehmen. Unser spezifischer Denkansatz ist dabei die Idee der Menschenwürde, umgesetzt in der schon angesprochenen, immer wieder neu auszutarierenden Balance zwischen der Freiheit des Einzelnen und seiner Verantwortung für seine Mitmenschen.“

„Der heutige „homo instrumentalis“ wird der Komplexität der von ihm erzeugten Artefakte nicht mehr Herr. Er gleicht dem Zauberlehrling in Goethes gleichnamigem Gedicht. Nur dass in unserem Falle kein Meister im Hintergrund bereitsteht, der ihm zu Hilfe eilen könnte.“

"Die Geister, die ich rief..."

Zauberlehrling, Goethe

Werner Weidenfeld:

„Die gegenwärtige Lage ist höchst kompliziert. Sie entzieht sich unseren bisherigen Beschreibungsversuchen und unserem traditionellen Vokabular. Zu dramatisch, zu tiefgreifend, zu aufregend und zu undurchsichtig wird Europa vom Wandel erfasst.

„Was macht Europa eigentlich aus? Was ist spezifisch für diesen Kontinent? Was hält Europa zusammen? Durch diese drängenden Fragestellungen wird greifbar, dass Europa mehr als ein Wirtschaftsraum, mehr als eine Währungsunion und mehr als ein bloßes Interessengerangel ist. Europa ist ein normatives Projekt! Es gilt, die Normen zu beschreiben und zu begreifen, nach denen die Schicksalsgemeinschaft ihren politischen Raum gestalten will.“

„Für die Realisierung des neuen Europa bedarf es strategischer Köpfe.“

„Der Krieg hat Europa erfasst. Die Überfülle der Probleme lässt die strategische Sprachlosigkeit dominieren. Das Massensterben in der Ukraine macht keine Pause. Allerdings war die EU schon vor dem Krieg Russlands gegen die Ukraine eine Großbaustelle. Der russische Angriff auf die Ukraine hat eine Vorgeschichte, zu der das Versagen der EU gehört, zu einer stabilen Friedensordnung auf dem Kontinent unter Einbeziehung Russlands beizutragen.

„Die Dramatik der Existenzkrise Europas wird sofort anschaulich durch die gängigen Schlagzeilen der letzten Monate: „Die Welt ist aus den Fugen geraten“, „Europa brennt“, „Die Zeit drängt“, „Europas großes Examen“. Europa steht vor einer Zeitenwende von historischem Ausmaß. Es wirkt so, als ob der Kontinent in eine große Katastrophe geraten sei. Doch die europäische Politik erschöpft sich weitgehend in situativem Krisenmanagement. Gesellschaftlich bindende Orientierung? Fehlanzeige.

„Es gilt, die strategischen Köpfe unserer Zeit - man könnte im übertragenen Sinne sagen: die Jacques Delors, die Henry Kissingers, die Michel Barniers oder auch die Walter Hallsteins und die Egon Bahrs unserer Zeit – vertraulich zusammenzubringen und deren Zusammenarbeit zu organisieren.

Antje Vollmer:

„Ausgeblendet wird oft die Tatsache, dass die heute viel zitierte „regel- und wertebasierte Weltordnung“ und das Friedensgebot der UNO nicht zum ersten Mal, sondern bereits im Kosovo- und Irakkrieg verletzt wurden, als die NATO ohne UN-Mandat mit einer „Koalition der Willigen“ ihre Sicht der Lage militärisch durchzusetzen versuchte.“

„Die Konferenzen in Helsinki, die Ostverträge und die vielen bilateralen Reformvorhaben und wirtschaftlichen Verknüpfungen gerade zwischen Deutschland und der Sowjetunion galten hier als Garanten für die erforderlichen stabilen Kooperationen zwischen den Machtblöcken. Sie zielten auf anwachsendes Vertrauen selbst im Kreml, irgendwann ein Teil eines gemeinsamen europäischen Sicherheitssystems in einem geeinten euroasiatischen Kontinent zu werden. Erdacht war dieses Konzept in der SPD, von Willy Brandt und Egon Bahr, wirksam war es in der deutschen Politik aber auch bei Kohl und Genscher, Weizsäcker und Schmidt - bis hin zu Gerhard Schröder. Seinen kongenialen Partner fand es in Michail Gorbatschows Perestroika-Politik. Joschka Fischer und Angela Merkel dagegen markieren bereits die Zeit des Umbruchs zu anderen, jetzt eher euroatlantischen Konzepten. Gerade das Moment der Gewaltfreiheit in den Umbruchprozessen ist für die Haltung der Entspannungspolitiker entscheidend - und steht damit auch im Zentrum vieler heutiger Angriffe auf diese Position. Damit der Prozess gewaltfrei verlaufen konnte und möglichst wenige Opfer forderte, gab es keine Alternative zu unermüdlichen geduldigen Verhandlungen, teils offener, teils verdeckter Natur. Auf alte Feindbilder und Dämonisierungen musste ebenso verzichtet werden wie auf das Bedürfnis, am Ende des Prozesses einen Sieg des eigenen Systems verkünden zu können.

„In Wahrheit - das haben Nelson Mandela, Mahatma Gandhi und Martin Luther King bewiesen - sind auch die Menschenrechte auf Dauer nur gewaltfrei durchzusetzen. Das mag länger dauern als der Weg der Gewalt. Aber er erzeugt stabilere Gesellschaften und verringert die Zahl der Opfer und der von Krieg, Bürgerkrieg und Demütigung traumatisierten Menschen.“

„Deswegen sind und bleiben Kriegsvermeidung, Kriegsverhinderung und Diplomatie zur Kriegsbeendigung die vorrangige Aufgabe von Politik.“