"Tragischer Vorfall" in Polen kein NATO-Bündnisfall!

Veröffentlicht am 16. November 2022 um 03:57

Nach dem Einschlag einer Rakete am Dienstagabend im polnischen Przewodów glühen die Drähte heiß. Es ist der erste Einschlag seit dem 24.02.2022 außerhalb ukrainischen Territoriums auf NATO-Gebiet und dabei wurden 2 Menschen getötet.

Präsident Duda berufte direkt eine Krisensitzung des nationalen Sicherheitsrates ein, setzte Teile der polnischen Armee in erhöhte Bereitschaft und wird wohl voraussichtlich am Mittwoch in der NATO-Sitzung den Antrag stellen, die Verfahren nach Artikel 4 des NATO-Vertrags einzuleiten.

Für Mittwoch wurde von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg eine Dringlichkeitssitzung der NATO-Botschafter einberufen, bei der es um den "tragischen Vorfall" in Polen gehen wird, laut einer Sprecherin.

 

Es wird nun allseits spekuliert, woher die Rakete kam, von wem sie abgefeuert wurde und was das Ziel war. Wer provoziert wen, provoziert überhaupt jemand, "False Flag" oder war das ein Unfall? Fest steht momentan nur eins: die Rakete war laut polnischer Untersuchungen russischer Bauart. Die Bauart an sich jedoch ist überhaupt nicht aussagekräftig im Bezug auf die Frage, wer sie abgefeuert hat, denn diese Raketen werden standardmäßig von beiden Seiten benutzt. Die Frage des Ziels kann Stand jetzt nicht beantwortet werden und man sollte sich vor Spekulationen hüten. Alles ist möglich und selbstverständlich ist die Frage „cui bono“ - wie immer - zu stellen.

 

Allerdings stellt sich die Frage nach dem Nutzen erst, wenn klar ist, dass es eine gezielte Tat war. Das ist es aber in diesem Moment nicht – möglich ist tatsächlich auch ein „tragischer Vorfall“ im Sinne eines Unfalls bzw. einer nicht bewusst beabsichtigten Tat. Möglich wären z.B. eine Rakete älterer Bauart, also ein technisches Problem oder menschliches Versagen – Risiken, vor denen wir seit Monaten warnen und auch deswegen Verhandlungen und einen Waffenstillstand fordern. Wenn es ein unbeabsichtigter Vorfall war stellt sich auch die Frage nach dem Nutzen nicht.

 

Hoffnungsvoll stimmt nun die Rhetorik der NATO: sie spricht vom „tragischen Vorfall“, das impliziert eine Tendenz. Man geht äußerst besonnen vor und wählt nicht – so wie es mehrmals bereits vorgekommen ist - direkt eine progressiv aggressive Sprache. Und das sieht erstmals nach einem unabhängigen, souveränen, besonnenen NATO-Vorgehen aus, denn der ukrainische Präsident Selenskyj legte sich bereits fest und stellte fest, dass der „russische Raketenangriff“ auf NATO-Gebiet eine gravierende Eskalation der Lage bedeute und forderte eine Reaktion: "Es besteht Handlungsbedarf."1

 

Handlungsbedarf der NATO? Wirklich? Ja, selbstverständlich im Sinne von der Einleitung unabhängiger Untersuchungen, da bin ich bei ihm. Aber meinte er auch das? Jedenfalls kann er nicht auf Artikel 5 des NATO-Vertrages abgezielt haben, die Ausrufung des Bündnisfalls - zumal die russische Regierung bereits vehement abstritt, dass die Rakete von Ihnen kam, denn es seien überhaupt keine Ziele im ukrainisch-polnischen Grenzgebiet beschossen worden. Und selbst falls es doch in der Nähe Beschüsse gab, meines Erachtens ist die Idee (wie sie auch in den sozialen Medien kursiert), Russland könnte gezielt NATO-Gebiet beschossen haben, völlig abwegig, unlogisch und wäre selbstzerstörerisch.

 

Der amerikanische Präsident seinerseits versprach die volle Unterstützung seines Landes für Polen und dessen Ermittlungen in dem Fall. Zudem unterstrich er nach US-Angaben das "eiserne Bekenntnis der Vereinigten Staaten zur NATO."2 So auch die deutsche Regierung in persona Bundeskanzler Scholz und Außenministerin Baerbock: sie sprachen ihr Beileid aus, betonten jedoch auch direkt in diesem Zusammenhang das NATO-Bündnis.

Bevor es keine gesicherten Erkenntnisse gibt, sollten alle Beteiligten sehr vorsichtig sein!

Wichtiger denn je ist jetzt, eine kühlen Kopf zu bewahren, alles andere könnte in einer Katastrophe ungeahnten Ausmaßes münden. Meines Erachtens wäre spätestens dieser Vorfall die Grundlage für einen sofortigen Waffenstillstand. Genug ist genug.

 

1: vgl. tagesschau.de, 16.11.2022, 01:58 Uhr

2: vgl. tagesschau.de, 16.11.2022, 02:16 Uhr

 


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Kommentare

Sabie
Vor einem Jahr

Beten wir dass es auch so gesehen wird.....sehr informativer sachlicher komplex betrachteter Beitrag!!!! Daaanke

TS
Vor einem Jahr

Ja absolut! Und vielen Dank für das Lob!

Beate
Vor einem Jahr

Inzwischen hat Biden höchst persönlich verkündet, dass es sich wohl um eine ukrainische Abwehrrakete handelte. Man kann nur hoffen, dass die USA nicht jedes „Spielchen“ unserer ukrainischen und polnischen „Freunde“ mit machen.

TS
Vor einem Jahr

Und die Hoffnung haben wir ja alle noch...! Ich denke, für "Spielchen" ist die Lage zu ernst... Wer weiß, vielleicht ist das sogar ein Anlass für eine neue, deeskalierend bzw. ent-spannende Richtung?