Interview: „Selenskyj spielt nur den Helden“, B.K.

Veröffentlicht am 10. Mai 2023 um 20:39

"Wie man durch Schmiergeld der Wehrpflicht entkommt und weshalb privates Geld für die Soldaten wichtig ist: ein Gespräch mit einem Ukrainer im Westen des Landes.

Der 38-jährige Bohdan Kostenko* lebt in einer großen westukrainischen Stadt. Er ist Vater zweier kleiner Söhne, hat Architektur studiert und bis zur Eskalation des Krieges vor einem Jahr ein mittelständisches Architekturbüro geleitet. 

"Mein Cousin ist in der Nähe von Saporischschja stationiert. Und ja, 5 meiner Freunde sind leider mittlerweile tot...

Alles, was meine Freunde und ich organisieren und den Soldaten übergeben, finanzieren wir mit unserem Geld. Ich selbst nehme zum Beispiel Geld, was sonst für meine Familie da wäre. Eigentlich wollte ich unsere Doppelhaushälfte am Stadtrand für mich und meine Familie längst fertiggestellt haben. Aber seit der Kriegseskalation ist dafür kein Geld mehr über."

Korruption ist immer noch in der Gesellschaft der Ukraine verbreitet...

Leider gibt es immer noch viele Menschen in der Ukraine, die Geld für ihr eigenes Konto, ihre eigene Wohnung oder ihr nächstes eigenes Auto stehlen... In der Regierung bzw. im Staatsapparat gibt es immer noch Leute, die in die eigene Tasche wirtschaften. Auch Mitglieder von Selenskyjs Partei gehören dazu...

Diese Leute geben aber kein eigenes Geld aus, sondern behalten 30 % der Spendengelder für sich. Das ist doch irre.

Ich habe bei den vergangenen Wahlen für Petro Poroschenko gestimmt, hatte also schon länger eine kritische Meinung zu Selenskyj. Doch mittlerweile sind auch viele Selenskyj-Wähler enttäuscht.

Oder noch schlimmer: Ich habe Freunde, die für Selenskyj gewählt haben, zum Militär gegangen sind und nun tot sind...

Die Leute sind nicht wegen Selenskyj gestorben, aber wegen seiner Politik.

Er hat angefangen mit Moskau zu spielen, und nun haben wir das Resultat.

Selenskyj spielt nur den Helden. Das ist meine Meinung...

In den ersten Monaten seit der Kriegseskalation gab es sehr viele Leute, die freiwillig zum Militär gegangen sind... Aber diese Leute sind auch Menschen. Sie brauchen Pausen... Dieser Job ist hart. Die Situation ist jetzt schwerer. Im letzten Monat haben Einberufungsbeamte bereits bei uns in der Stadt und in Restaurants nach wehrpflichtigen Männern gesucht... vor zwei Wochen, hier in der Stadt. Ich war gerade neben meinem Auto. Sie wollten mich einziehen und begannen, das Schriftstück auszufüllen. Als ich wieder zeigte, wie sehr ich bereits helfe, erkannte einer der beiden mich. Dann war es okay.

Ich bin kein Einzelfall: Vor zwei Tagen haben mehrere Beamte in der Stadt die Straßen blockiert, Autos und Busse angehalten und nach wehrfähigen Männern gesucht...

Wenn du etwas gegen deinen Willen tun musst, machst du es nicht mehr so gut...

 Ich darf laut Gesetz die Ukraine nicht verlassen. Und ich möchte kein Korruptionsgeld zahlen, um rauszukommen. Geht das? Natürlich. Wir sind in der Ukraine, einem Land mit vielen Möglichkeiten. Tatsächlich sind zwei meiner Ex-Freunde abgehauen, einer nach Kanada, einer nach Polen...

Eine Option: Man besorgt sich ein Dokument, wonach man als Freiwilliger gilt, der beispielsweise aus Polen Hilfsgüter holen will. Das Papier kostet vielleicht 1000 Euro Schmiergeld. Damit kann man dann ausreisen. Leider funktioniert so etwas im System der Ukraine immer noch...

Ich bin stolz auf meine Leute und enttäuscht von meinem Staat...

Seitdem sind viele Menschen gestorben, nicht nur Soldaten, auch viele Zivilisten, Leute wie du und ich.

Gleichzeitig gibt es Beamte, die in diesem Kriegsjahr Geld verdient haben und ihre Zeit mit Eigen-PR verbracht haben. Das ist enttäuschend..."

 

berliner-zeitung.de, Wojciech Kowalski, archive.ph19.02.2023

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