Bolivien: Die "Geapolitik" des guten Lebens

Veröffentlicht am 11. Mai 2023 um 02:07

Worum geht es bei dem neuen Gedanken der Geapolitik aus Bolivien?

Interview mit Vizepräsident David Choquehuanca vom 8. März 2023 in La Paz, Bolivien, der auch am International Peace Summit 2023 in Wien eine Rede hielt

Was ist der grundlegende Unterschied zwischen Geopolitik und Geapolitik?

Uns Bolivianern wurde während der letzten 500 Jahre eingebläut, dass wir im Zug der Kolonisierung unsere eigene Identität verloren haben und wir nun zum westlich-europäisch geprägten "lateinamerikanischen" Kulturkreis gehören. Wir haben das selbst geglaubt und auch lange wiederholt. Das ist seit dem Jahr 1992 vorbei. Mit der Geapolitik des guten Lebens, stellen wir die Idee der Erde als Lebewesen und Mutter ins Zentrum des Verständnisses unserer heutigen Situation. Damit sind wir nicht allein. Die Mutter Erde als Lebewesen ist im Griechischen als Gea und Gaia bekannt gewesen, bei uns als Pachamama und in den Veden aus Indien wird sie als Prithivi besungen.

Wir respektieren grundsätzlich jede Form der menschlichen Kultur. Natürlich auch unsere eigene. Deshalb habe ich in meiner ersten Rede, als ich die Vizepräsidentschaft übernommen habe, die eine Wahrheit gesagt: Die Kolonisatoren und ihre Nachfahren lügen uns seit 500 Jahren an. Sie sagten, dass wir "Latein-Amerikaner" sind und deshalb von Europa abstammen, und dass unsere Trikolore (die bolivianische Nationalflagge), unser Land als Teil von diesem "Latein-Amerika" verkörpert. Aber vor der Kolonialzeit gab es hier unsere eigene Flagge, die Wiphala. Sie ist völkerverbindend und verbindet uns mit dem vorkolonialen Territorium des Condesuyo und Abya Yala.

Im Namen der heutigen Nationalflaggen haben sie unsere Lebensräume zerstückelt und unsere Länder und Ressourcen systematisch geplündert. Die Wiphala hingegen ist der Kodex der Integration und verkörpert den Regenbogen. Der Regenbogen hat keine Grenzen, er ist nicht bolivianisch, nicht argentinisch, nicht peruanisch, nicht schweizerisch, nicht japanisch. Der Regenbogen ist ein Teil der Natur und hat deshalb keine Grenzen. Er ist ein Bild der Einheit, nicht der Trennung.

Als uns das klar wurde, fragten wir uns: Hey, sind wir Römer? Nein, wir sind keine Römer, denn die Wiphala spricht zu uns und sagt: "Hey, wir sind eigene Völker mit eigener Kultur und eigenen Namen: Quechuas, Aymaras, Guaranies, Chiquitanos, wir sind Yuracarés und Mojeños."

Die Trikolore steht also für etwas, das nicht zu uns gehört, sie ist "lateinamerikanisch". Sie steht für die materiell fokussierte, egozentrische Entwicklung des "immer mehr Habens", sie ist der erste Januar, die Universität, das instrumentelle Wissen und sie ist Geopolitik.

Die Wiphala hingegen weist uns den Weg zu uns selbst. Sie ist Abya Yala, sie steht für das "gute Leben" in freien Gemeinschaften, sie ist der 21. Juni (Wintersonnenwende, unser wirkliches Neujahr), sie steht für die Pluriversität, Multiversität, kosmosophisches Denken oder - kurz gesagt – die Wiphala ist die Geapolitik.

Mit Geapolitik bringen wir zum Ausdruck, dass wir uns auf einem Weg befinden, der uns vom Ungleichgewicht zum Gleichgewicht führen wird. Deshalb sprechen wir von Pachakuti. Dieser Begriff steckt in der Wiphala. Pacha ist "Gleichgewicht in Raum und Zeit". Kuti ist "Rückkehr".

Pachakuti führt uns zum Umbau der Republik in den plurinationalen Staat. Wir verstehen das als einen radikalen Prozess des Wandels. Es ist eine Revolution der Ideen. Der Kolonialismus hat unsere Köpfe stark beeinflusst. Er hat uns mit den Ideen des Individualismus, der Gier, des Rassismus und des Hasses infiziert. Jetzt müssen wir all das schmerzhafte Denken verbannen.

Deshalb sagen wir, hört auf, individualistisch zu sein und euch spalten zu lassen. Hass und Rassismus müssen wir hinter uns lassen. Das bedeutet, zum Jiwasa-Sein zurückzukehren. Das ist auch ein Wiphala-Code. Jiwasa besagt, dass wir so in der Welt stehen, dass wir in erster Linie sagen "wir sind" und nicht "ich bin". Jiwasa ist der Tod des Egozentrismus, des Anthropozentrismus, des Eurozentrismus.

Für uns ist klar: Auch die Begriffe "links, rechts, überlegen, unterlegen, arm, reich" kommen von außen. In unseren Gemeinschaften gab es keine Spaltung. Wir haben uns nicht von Pachamama getrennt. Die Spaltung kam mit der Kolonisierung. Wir müssen zu unserem integralen Menschsein, das ein Teil der Natur ist, zurückkehren. Nur so hören wir auf, ein verwaistes menschliches Wesen zu sein, das isoliert von seiner gespaltenen Familie lebt. Das bedeutet die Dekolonisierung des Denkens.

In der Wiphala ist "unser eigenes Denken" als Yuyay kodifiziert.

Es ist die Philosophie und Kultur des Lebens, der Brüderlichkeit, der Harmonie, der Komplementarität, des Konsenses und des Friedens.

Sie lehnt die Ideologie der Herrschaft, der Unterwerfung oder der Spaltung ab.

Aus Europa hören wir in diesem Zusammenhang oft folgende Frage: Wie können wir geapolitisch arbeiten? Es ist klar, dass die Antworten von uns selbst kommen müssen, aber könnten Sie uns ein paar Ideen oder Überlegungen dazu geben?

Wir leben heute alle mehr oder weniger im Sinn des westlichen, kapitalistischen Entwicklungsverständnisses. Es ist die Anwendung der Werte der Geopolitik - also die Beherrschung und Unterwerfung – auf die Menschen, Wirtschaft, Politik und Natur. Was haben wir davon? Ernährungs-, Wasser-, Klima-, Energie- und Finanzkrisen. Das betrifft die ganze Menschheitsfamilie. Die Mutter Erde ist gefährdet, das Leben selbst ist höchst schutzlos geworden. Die geopolitische Denkweise kann nicht fortgesetzt werden. Sogar der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat in einer seiner Reden gesagt, dass die Staats- und Regierungschefs der Welt sich zu einer Versammlung der Erde treffen sollten. Wichtig wäre die Diskussion, um die Zukunft der Erde nicht von einem anthropozentrischen Standpunkt aus zu führen; denn das Denken des - jetzt auch Anthropozän genannten - Zeitalters hat uns sehr geschadet.

Wir müssen zum Leben zurückkehren.

Wir müssen das Leben verteidigen und es grundsätzlich neu überdenken.

Wie werden wir gegen all diese Krisen ankämpfen? Wir dürfen keine passiven Zaungäste sein. Wir müssen handeln, auf der Grundlage des eigenen Denkens, das aus der Energie des Bewusstseins speist, das fragt: Was wollen wir unseren Kindern hinterlassen?

Wir müssen zurückkehren und unser Leben leben, aber mit Leidenschaft und Liebe.

Dieser westliche Weg der "Entwicklung" hat uns zum totalen Zusammenbruch geführt. Wir stehen am Rande einer globalen Katastrophe. Wir können also nicht mit verschränkten Armen zusehen. Deshalb müssen wir – jeder an seinem Ort und in seiner Kultur - intensiv nach Alternativen suchen und dann unsere menschliche Kreativität wecken und bündeln.

Viel zu lange haben wir, wie Papageien, einfach wiederholt: "Unsere eigene Kreativität ist tot. Die Rettung liegt in der Technik, der Digitalisierung und der Regierung von oben nach unten". Neuerdings will man für uns und die Natur sogar einen Marktpreis fixieren.

Aber wir sind keine Gegenstände, wir sind keine Objekte, wir sind Menschen!

Das ist auch eine Chance.

Vor allem die Jugend muss aufwachen, sie muss ihre Kreativität erwecken und Larama entdecken. Dieser Wiphala-Code bezeichnet den "rebellischen Krieger", der aufhört unterwürfig zu sein.

Die Kodizes der Wiphala und des guten Lebens sind angesichts der globalen Krise des Kapitalismus entstanden.

Sie stehen für Gleichgewicht, Harmonie und Brüderlichkeit.

In diesem Zusammenhang sprechen wir vom Ayllu, das über die "Organisation der reinen Menschen-Gesellschaft" hinausgeht, im Sinne von Taqpacha, was "jedes Wesen, das den Planeten bewohnt" bezeichnet. Der Mensch muss bescheidener werden. Deshalb gilt im Ayllu auch Tupo. Dieser Wiphala-Code bedeutet, allem respektvoll und mit Maß zu begegnen.

Mit Pachakuti sprechen wir von der Rückkehr zum Pfad des Respekts, zum Pfad der Wahrheit. Das ist der Qhapaj Ñan, "der Weg der edlen Integration". Auf diesem Weg erlernt der Mensch das kosmische Wissen in und um sich kennen, das Heilen, die Wahrheit und Komplementarität erkennen. So suchen wir die Harmonie mit der lebendigen Natur. Das Ayllu wird somit zu einer Organisation aller Lebewesen. Es ist deshalb die Grundlage für unsere ganzheitlichen Lebensformen, die wir in Spanisch "vivir bien" nennen (Das gute Leben).

Im Sinne der Geapolitik des guten Lebens müssen wir auch unser Qhawana erwecken, das bedeutet: "über das hinausschauen, was die Augen sehen können". Um diese Fähigkeit auszubilden, brauchen wir Begegnungen, den Austausch von Erfahrungen und kosmosophischem Wissen, für eine reale Wiederbegegnung mit der Mutter Erde. Qhawana bedeutet nicht nur "weiter schauen, als die Augen sehen können", sondern bedeutet vor allem auch "nach innen schauen". Das ist sehr wichtig, denn nur so können wir die eigenen Wurzeln und Werte erkunden. Unsere Wurzeln bezeichnen wir als Saphi. Das ist wieder ein Code der Wiphala, der uns sagt, dass man nicht vergessen darf, dass man Kultur hat, dass man kulturelle Wurzeln hat.

Es ist wichtig zu beachten, dass alle diese Codes, die uns die Wiphala gibt, nicht nur Worte sind. Es sind die Worte mit denen Pachamama zu unseren Herzen spricht. Saphi sagt uns also: "Vergiss nicht, woher du kommst, vergiss nicht, die Sonne zu grüßen… denn all das ist Teil deiner Wurzeln. Vergiss nicht deine Großmutter, deine Philosophie, vergiss nicht deine Kultur, die Kultur des Lebens; du bist nicht von der Kultur des Todes, du bist nicht von der Kultur der Konfrontation".

Dies bezieht sich dann auf Amtaña, ein weiterer Wiphala-Code. Amtaña ist Planung. Das heißt, die Planung kommt von unseren Wurzeln her, von unserer Kultur und nicht mehr von dem, was wir nicht sind. Mit diesen Codes sind wir ein denkender Kosmos, ja das sind wir.

Können Sie das noch etwas genauer erklären, warum wir als Menschen "denkender Kosmos" werden können?

Das habe ich im Buch über den Dialog zwischen unseren und den westlichen Wissenschaften so ausgeführt: Alles beginnt mit der Intuition und von dort geht es weiter zur Vernunft, aber im indigenen Wissen sind die beiden nicht getrennt. Deshalb sagen wir "corazonar" oder "mit den Herzen denken". Ohne dies, haben unsere Handlungen keinen tieferen Sinn. Es bedeutet das Denken fühlen und das Fühlen denken. Es ist ein ständiger, zirkulärer Prozess, den wir Amuyu nennen. Damit verbinden wir uns in unserem Denken, Fühlen und Handeln mit unseren Wurzeln und werden so Teil des denkenden Kosmos.

Ist dieses "Erwecken der eigenen Wurzeln" auf Bolivien beschränkt?

Nein, nein, das ist nicht auf Bolivien beschränkt! Die Wiphala kennt keine Grenzen. Außerdem enthält sie den Code Tama, was "die große Menschheitsfamilie" heißt. Die Wiphala und die Geapolitik, suchen die Wiedervereinigung der großen Menschheitsfamilie. Und wer ist Teil der großen Menschheitsfamilie? Das sind wir alle, die wir uns von der Milch der Mutter Erde, also dem Wasser, ernähren. Wir sind Brüder und Schwestern. Deshalb streben wir nach Brüderlichkeit auf nationaler und kontinentaler Ebene;

wir brauchen Brüderlichkeit im Dialog. Das ist der einzige Weg, um den Frieden zu garantieren.

Gibt es auch eine realpolitische Dimension der Geapolitik?

Ja, klar, auch die Politik müssen wir neu denken lernen. Die Rechten haben ihre Angst vor den Linken schon längst verloren. Deren Interesse an uns Indigenen sind sehr ähnlich: Sie wollen uns vor allem spalten. Zusammen bilden sie die Elite der Saboteure und Räuber der Ressourcen der Mutter Erde und des Lebens. Diese Elite hat sich schon immer der Spaltung bedient, und natürlich hat die Rechte die Linke dominiert, aber im Grunde genommen haben beide Angst vor uns, den jahrtausendalten Kulturen. Aber jetzt sind die Turbinen des alten Systems ins Stocken geraten, sie können nicht mehr! Der Geopolitik ist der Dampf ausgegangen! Wir wollen jedoch keinen Krieg, sondern einen friedlichen Übergang von der Geo-zur Geapolitik!

Leider wissen immer noch zu wenig Leute, warum wir die Codes der Wiphala in unserer Verfassung haben und was das mit dem Regenbogen zu tun hat. Das begann im Jahr 1992. Da organisierten wir die Kampagne "500 Jahre Widerstand". Es kamen viele Menschen aus der ganzen Welt nach Twianaku [alte Einweihungsstätte in der Nähe von La Paz].

Die Lakotas aus Nordamerika überbrachten uns damals eine Botschaft, die sie von ihren Vorfahren vor hunderten von Jahren bekommen hatten. Die Botschaft lautete: "Wenn die Welt am Rande des Abgrundes steht, wenn die Menschheit im Chaos versinkt, wenn es eine totale Krise gibt, dann werden aus dem Süden des Kontinents kraftvolle Krieger des Regenbogens auftauchen, um die Harmonie wiederherzustellen". Da haben wir verstanden, wir sind diese Krieger des Regenbogens. Wir müssen uns von hier aus erheben, denn wir kennen die Kodifizierung des Regenbogens in der Wiphala.

Um zu versuchen, wie wir als Regenbogen-Krieger von hier aus handeln können, haben wir vereinbart, die Idee der Pachamama in die Vereinten Nationen nach New York zu tragen. Eine große Mehrheit der Vollversammlung fand das wichtig.

Im Jahr 2010 wurde unser Antrag bewilligt und der bisherige "UNO-Tag der Erde" (22. April) wurde in den "Tag der Mutter Erde" umgewandelt. Mit dieser Erklärung wurde die Erde zu einem Subjekt, das lebt, kommuniziert und so auch zum Rechtsträger wurde.

Stephan Rist ist Agrarwissenschaftler und war bis 2021 Professor für Humangeographie an der Uni Bern. Zuvor arbeitete er neun Jahre als Schweizer Ko-Direktor des Agrarökologie Programms der Universität Cochabamba in Bolivien. Heute gehört er zum Team der Akademie – Freiheit Lebenswerk (AFL)

 

1: Delgado Burgoa, J. and Rojas, C. S., 2021. Avances Teóricos Metodológicos y Experiencias de Diálogo Intercientifico en Países Andino Amazónicos. Ministerio de Educación, La Paz, Bolivia. Download: https://biblioteca.minedu.gob.bo/biblio/book/61453

2: Wortschöpfung in Spanisch. In Anlehnung an das Aymara eine Integration der beiden Begriffe corazón (Herz) und razonar (Nachdenken)

Corratio

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Die Vollverson findet Ihr hier.


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