"Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner?"

Veröffentlicht am 22. April 2024 um 01:28

Und immer wieder schickt ihr mir Briefe,

in denen ihr, dick unterstrichen, schreibt:

»Herr Kästner, wo bleibt das Positive?«

Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt.

Noch immer räumt ihr dem Guten und Schönen

den leeren Platz überm Sofa ein.

Ihr wollt euch noch immer nicht dran gewöhnen,

gescheit und trotzdem tapfer zu sein.

Ihr braucht schon wieder mal Vaseline,

mit der ihr das trockene Brot beschmiert.

Ihr sagt schon wieder, mit gläubiger Miene:

»Der siebente Himmel wird frisch tapeziert!«

Ihr streut euch Zucker über die Schmerzen

und denkt, unter Zucker verschwänden sie.

Ihr baut schon wieder Balkons vor die Herzen

und nehmt die strampelnde Seele aufs Knie.

Die Spezies Mensch ging aus dem Leime

und mit ihr Haus und Staat und Welt.

Ihr wünscht, dass ich's hübsch zusammenreime,

und denkt, dass es dann zusammenhält?

Ich will nicht schwindeln. Ich werde nicht schwindeln.

Die Zeit ist schwarz, ich mach euch nichts weis.

Es gibt genug Lieferanten von Windeln.

Und manche liefern zum Selbstkostenpreis.

Habt Sonne in sämtlichen Körperteilen

und wickelt die Sorgen in Seidenpapier!

Doch tut es rasch. Ihr müsst euch beeilen.

Sonst werden die Sorgen größer als ihr.

Die Zeit liegt im Sterben. Bald wird sie begraben.

Im Osten zimmern sie schon den Sarg.

Ihr möchtet gern euren Spaß dran haben...?

Ein Friedhof ist kein Lunapark.

Erich Kästner


Abwarten? Tun!

Erich Kästner

Rundheraus: Das alte Jahr war keine ausgesprochene Postkartenschönheit, beileibe nicht. Und das neue? Wir wollen's abwarten.

Wollen wir's abwarten?

Nein.

Wir wollen es nicht abwarten! Wir wollen nicht auf gut Glück und auf gut Wetter warten, nicht auf den Zufall und den Himmel harren, nicht auf die Weisheit der Regierungen, die Intelligenz der Parteivorstände und die Unfehlbarkeit aller übrigen Büros.

Wenn Millionen Menschen nicht nur neben-, sondern miteinander leben wollen, kommt es auf das Verhalten der Millionen, kommt es auf jeden und jede an, nicht auf die Instanzen.

Wenn Unrecht geschieht, wenn Not herrscht, wenn Dummheit waltet, wenn Hass gesät wird, wenn Muckertum sich breit macht, wenn Hilfe verweigert wird  – stets ist jeder Einzelne zur Abhilfe mit aufgerufen, nicht nur die jeweils „zuständige“ Stelle.

Jeder ist mitverantwortlich für das, was geschieht, und für das, was unterbleibt.

Und jeder von uns und euch muss es spüren, wann die Mitverantwortung neben ihn tritt und schweigend wartet. Wartet, dass er handele, helfe, spreche, sich weigere oder empöre, je nachdem.



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