"Höre Israel - Gedichte gegen das Unrecht" | Erich Fried

Veröffentlicht am 15. Oktober 2023 um 01:55

Dieses Gedicht von Erich Fried ist ein Gedicht gegen das Unrecht und wurde von ihm als Reaktion auf den Holocaust geschrieben. Er betont, dass er nicht als Fremder oder Feind spricht, sondern als Freund und als jemand, der die Schrecken des Holocausts selbst miterlebt hat und erwähnt, dass seine Verwandten in den Gaskammern und Öfen umgekommen sind. "Seit dem Judenmord des Hitlerfaschismus führt in Westeuropa ein kollektives Schuldgefühl oft dazu, dass jede Kritik an Juden und dem Staat Israel unterbleibt. Dabei wird kurzerhand beides gleichgesetzt. Parteinahme für die Zionisten und Kritiklosigkeit gegenüber Israel gilt vielen als Wiedergutmachungspflicht. Erich Fried, nach dem deutschen Einmarsch in Wien 1938 selbst als Jude verfolgt, empfindet außer Solidarität mit allen unschuldig Verfolgten und Benachteiligten auch Mitverantwortlichkeit für das, was Juden in Israel den Palästinensern und anderen Arabern antun."* Das Gedicht ist eine Mahnung gegen das Vergessen und eine Aufforderung, sich gegen das Unrecht zu stellen.

1.

Nicht als Fremder und nicht als Feind
von Hass gegen euch entzündet.
Ich spreche als einer von euch,
der auch Irrwege kennt.

In den Gaskammern und in den Öfen,
wo eure Familien vergingen,
wurden auch meine Verwandten
vergast und verbrannt.

Seither kämpfe ich gegen das,
was dahin geführt hat,
gegen die Mächte,
die Hitler zur Macht verhalfen.

Sie sind noch nicht verschwunden
von dieser Erde - 
und was tut i h r?
Ihr lasst euch von ihnen fördern.


4.

Ihr seid tüchtige Pflanzer geworden,
ihr habt die Wüste bewässert.
Doch die Armen die vor euch dort wohnten,
die habt ihr weg gedrängt.

Eure Gönner, die Saatgut schickten
und Geld für eure Arbeit
und Waffen für eure Macht
sehen: die Saat geht jetzt auf.

Nicht nur Pflanzen:
An Stelle des ungerechten
Hasses, der euch verfolgt hat,
sät ihr heute gerechteren Hass.

Ich wollte nicht,
dass ihr im Meer ertrinkt,
aber auch nicht, dass andre durch euch
in der Wüste verdursten.

Als ihr verfolgt wurdet,
war ich einer von euch.
Wie kann ich das bleiben,
wenn ihr Verfolger seid?


7.

Kehrt um! Kehrt um!
Die euch Geld oder Waffen gaben
werden nicht immer da sein,
um euch zu schützen.

Umkehren wird nicht leicht sein:
Der Hass der Armen lebt lange
und viele wünschen euch das,
was einst ihr euren Peinigern wünschtet.

Doch euch bleibt kein anderer Weg,
euch die Zukunft zu öffnen,
wenn es nicht eine Zukunft
der ewig Verhassten sein soll.

Kehrt um! Kehrt um!
Die euch Geld oder Waffen geben
brauchen euch nur als Söldner
gegen die Zukunft, 
gegen das Ende der

Ausbeutung,
gegen die Hoffnung der Armen,
gegen die Völker,

die eure Brüder sein sollten.


10.

Wenn ihr euch nicht zu gut seid
für diese Rolle,
nicht zu tüchtig und nicht zu klug,
nicht zu menschlich und unabhängig,

dann werdet ihr abhängen
von den dürren Trägern des Unrechts,
wie ein Gehenkter abhängt
von seinem Galgen

als warnendes Beispiel,
wohin die Tapferkeit führt
und die Tüchtigkeit, wenn sie verführt ist,
dem Unrecht zu dienen.

2.

Sie wollen das gleiche von euch,
was sie von Hitler wollten:
Ihr sollt Vorposten sein
für ihre Ordnung der Welt.

Darum muss ich das Bittere sagen
in eure Ohren,
die ihr im Unrecht verstopft
wie zur Zeit der Propheten.

Auch wenn es bitter schwer ist,
auch wenn ihr es mit Bitterkeit heimzahlt,
aber ihr sollt nicht sagen können:
das sagten euch nur eure Feinde.

Und später soll es nicht heißen:
Zur Zeit als die Juden noch siegten,
sprach keiner von ihnen
gegen ihr eigenes Unrecht.


5.

Ihr habt nicht von den Völkern gelernt,
sondern von ihren Herren.
Ihr seid nicht mehr Opfer der andern:
ihr selbst wollt andere opfern

eurer vergänglichen Macht,
von der ihr glaubt, sie genügt,
um den Armen ihr Land zu nehmen,
auf dem sie saßen.

8.

Zwar unter denen sind solche
die haben gerufen:
„Alle Juden ins Meer!“
Das sind keine Stimmen der Zukunft.

Aber vergesst nicht:
es sind nicht alle dasselbe
so wie auch bei euch nicht alle
dasselbe denken.

In Ägypten und Syrien
waren andere Kräfte am Werk,
als in den Palästen
Arabiens oder Jordaniens.

Die Könige riefen zum Hass auf.
Sie kennen kein anderes Mittel,
ihre Untertanen
anzustacheln zum Kampf.

11.

Ich sage das nicht für die,
die euch immer schon Feinde waren
und nur neue Vorwände suchen
für ihren alten Hass.

Auch nicht für die unter euch,
die lernten von ihren Hassern
sich selbst zu hassen
oder sich hässlich zu finden.

Doch ich sage das gegen die,
die sich heute erschaffen wollen
nach dem Ebenbild ihrer Vernichter
um selbst Vernichter zu werden.

Denn wenn die euch beherrschen
vernichten sie trotz ihrer Siege
zuletzt sich selbst
wie das eure Vernichter taten.

Und ich sage das auch
gegen die falschen Freunde,
die eure Not benützen,
um euch tiefer in Schuld zu verstricken.

Gegen die, die euch vor treiben wollen,
bis es zur Umkehr zu spät ist,
um ihre Zwecke zu fördern
mit eurem Blut.

3.

Ihr habt in Europa
die Höllen der Höllen erlitten.
Verfolgung, Vertreibung,
langsamen Hungertod,

die Gewalt der Mörder,
die Hilflosigkeit eurer Schwäche,
die Urform des Unrechts,
das nichts als die eigene Macht kennt.

Ihr habt eure Henker
beobachtet und von ihnen
den Blitzkrieg gelernt
und die wirksamen Grausamkeiten.

Was ihr gelernt habt,
das wollt ihr jetzt weitergeben.
Kinder der Zeit des Unrechts
erzogen in seinem Bild.


6.

Ihre Gesichter
sind euren Gesichtern ähnlich.
Ihre Sprache
ist eurer Sprache verwandt.

Auch sie taten manchmal Unrecht.
Nicht alles ist schwarz oder weiß.
Ihr beide seid gebrannt
von der selben Sonne.

Aber euer Unrecht war größer,
denn ihr habt euch Land geben lassen,
von denen die kein Recht hatten,
es euch zu geben.

Zwar ihr selbst wart bedrückt wo ihr herkamt,
mehr als andere Kolonisten,
doch die Armen im Land, das ihr nahmt,
waren nicht schuld daran.

Zwar ihr selbst wart arm,
aber immer noch reich gegen die,
deren Boden ihr kauftet,
fast wie Yankees einst den der Indianer.


9.

Doch auch die Feindschaft der anderen
habt ihr erworben.
Ihr seid nicht schuldlos daran,
dass sie gegen euch sind.

Und vergesst auch nicht:
In New York, in Hamburg und London
schrieben die Zeitungen
freundlicher über die,

aus deren Ländern die Rufe
zum Völkermord kamen
über Feisal und Hussein
als über Ägypten und Syrien.

Denn die Könige wollen sie stützen,
aber die Länder, die sich mühsam
hin tasten zum Sozialismus,
zu Falle bringen.

Und dazu sollt ihr ihnen dienen
mit Haut und Haaren,
mit eurem ganzen Vermögen,
von dem sie euch etwas ersetzen.


12.

Ihr habt die überlebt,
die zu euch grausam waren.
Lebt ihre Grausamkeit
in euch jetzt weiter?

Eure Sehnsucht war so zu werden,
wie die Völker Europas,
die euch mordeten.
Nun seid ihr geworden wie sie.

Den Geschlagenen habt ihr befohlen:
„Zieht eure Schuhe aus!“
Wie den Sündenbock habt ihr sie
in die Wüste getrieben,

in die große Moschee des Todes,
deren Sandalen Sand sind.
Doch sie nahmen die Sünde nicht an,
die ihr ihnen auflegen wolltet.

Der Eindruck der nackten Füße
im Wüstensand
überdauert die Spur
eurer Bomben und Panzer.

*aus: "Höre Israel: Gedichte gegen das Unrecht", Erich Fried, (SEMITedition) Taschenbuch – 1. September 2010


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