Experten der Betroffenheit - Medien auf Sandkasten-niveau

Veröffentlicht am 6. Mai 2023 um 03:50

Thomas Fischer trifft einmal mehr in seiner aktuellen Kolumne direkt ins Schwarze: ein objektiver, wahrhaftiger und richtiger Bericht über das Geschehen sollte möglichst von einer zur Sache distanzierten Person verfasst werden und nicht stets von einer möglichst »betroffenen« Person stammen. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein und so von den ausgebildeten Journalisten auch praktiziert werden. Doch mit dem Ukrainekrieg änderte sich auch das grundlegend (Betroffenenberichte gab es schon immer vereinzelt, aber nicht quasi reglementiert). Darüber hinaus steuern Moderatoren und Interviewer ihre Gespräche gezielt manipulativ und durchgehend suggestiv in ihre gewollte, immergleiche Richtung.

"Klar sieht, wer von Ferne sieht, und nebelhaft, wer Anteil nimmt", 

das wusste bereits Laotse vor über 2.500 Jahren und auch unseren ausgebildeten Journalisten ist das wohlbekannt. Man fragt sich also zwangsläufig, weswegen sie 1. selbst derart unprofessionell arbeiten, 2. sachliche Analysen ignorieren oder diffamieren und 3. (das ist doch die größte Katastrophe) Beweise, die nicht ins Betroffenennarrativ passen, schlichtweg verschweigen. Darüber hinaus drängt sich die Frage auf, inwiefern gerade die von uns allen gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Medien ihren aus dem Grundgesetz abgeleiteten Bildungs- und Informationsauftrag umdefiniert haben. Denn eigentlich geht es um eine "freie Meinungsbildung", "kulturelle Vielfalt" und darum, einen "umfassenden Überblick über das internationale, europäische, nationale und regionale Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen zu geben".

"Das Hanns-Joachim-Friedrichs-Gebot (»Einen guten Journalisten erkennt man daran, … dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache«) lernt natürlich noch immer jeder Journalistenschüler auswendig. (...)

In der Ukraine- und Russlandberichterstattung klingt der Friedrichs-Satz endgültig wie ein

Witz..."

Dazu kommt ein weiteres "Phänomen": "die hiesige Expertenpublizistik zum Ukrainekrieg wird in erstaunlichem Umfang von Autoren bestritten, die entweder als Ukrainer vorgestellt werden oder als Russen, die eigentlich Ukrainer des Herzens sind, oder als Reporter, die »vor Ort« sowie mit ganzer Kraft Ukrainer des Herzens sind. Nun ist persönliches Anliegen eine inspirierende und vielleicht auch verpflichtende Angelegenheit. Trotzdem sollte für professionelle Journalisten doch eher der professionelle Journalismus die bestimmende Herzensangelegenheit sein als die emotional-demonstrative Verschmelzung mit einem Anliegen – in Kriegsfragen mit einer Kriegspartei...

Ein ganz erheblicher Teil der von Exil-Ukrainern verfassten Analysetexte besteht aus Wutbekenntnissen ohne größeren Wert.

Ich kann mich nicht erinnern, dass den Stellungnahmen irgendeiner anderen internationalen Kriegs- und Konfliktpartei in den vergangenen Jahrzehnten in der deutschen Publizistik ein derart dominierender Platz ohne jegliche Gegenrede oder Kritik eingeräumt worden wäre.

Haben Sie, verehrte Profikommunikatoren, schon jemals in Ihrem Berufsleben eine konflikthafte Problematik erlebt, in welcher die Positionierung zwischen »richtig« und »falsch« als so unhinterfragbar und eine andere, abweichende oder gar oppositionelle Position als annähernd so unvertretbar und verwerflich galten?...

Kann es tatsächlich sein, dass das Weltgeschehen nur mehr als Kampf des Guten gegen das Böse verstanden werden kann oder soll?...

Gibt es irgendeinen vor dem Wahrheitsgebot bestehenden Grund für die Annahme, dass über den Konflikt der Ukraine mit Russland ausschließlich Ukrainer und amtlich beglaubigte Russenhasser berichten sollten, um die Wahrheit zu enthüllen?... Ich kann mich an keinen gewaltsamen Konflikt der vergangenen Jahrzehnte entsinnen, in dem die publizistische Grundregel gegolten hätte, wonach der objektivste, wahrhaftigste und richtigste Bericht über das Geschehen stets von einer möglichst »betroffenen« Person stamme...

Die praktizierte Betroffenenperspektive enthält "erschreckendes Potenzial zu Unwahrhaftigkeit, Propaganda, Verkennung, Faulheit, Feigheit, Inkompetenz, Scheinrationalität und Opportunismus. In diesem Fall illustrieren sie eben das, was zu bekämpfen und zu verhindern sie behaupten."

Ceterum Censeo:

Es erscheint mir unwahrscheinlich, dass Abertausende Journalisten in Deutschland weder willens noch in der Lage sind, die sich jedem lieben Leser und Zuschauer aufdrängende Frage zu stellen, was denn nun die strategische Zielsetzung des aktuellen Welten- und Wertekampfs sei.

Ohne eine offene Diskussion dieser Frage aber bewegt sich das Ganze ersichtlich auf

*Sandkastenniveau*.

Das strategische Programm, es seien möglichst lange möglichst viele Waffen zu liefern bis zum vollständigen triumphalen Sieg des ukrainischen Brudervolks, scheint mir defizitär zu sein.

Wie, verehrte Experten aller Redaktionen, soll aus Ihrer Sicht der derzeitige Krieg enden?

Freier, offener, kritischer Journalismus ist ein Teil dessen, was als »unsere Werte« derzeit, wie behauptet wird, am Dnipro zu verteidigen ist.

Wenn jeder Anflug kritischer Distanz

nur mehr als Verrat oder Feindpropaganda denunziert wird,

ist ein Erfolg dieser Werteordnung allerdings

unwahrscheinlich."

spiegel.de, Thomas Fischer, archive.is, 28.04.2023


Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.